Rayan war erleichtert, dass sie sich gefangen hatte, auch er vermisste seinen Freund und konnte daher ihre Trauer gut verstehen.
Erst nach diesem Besuch konnte er diese furchtbare Reise, die eigentlich knapp zwei Wochen hätte dauern sollen, endlich abschütteln.
Alles war prima, meinte Rayan, jetzt könne er sich wirklich entspannen. Jassim und Hanif waren auch in ihre Häuser heimgegangen. Hanifs Mutter war ebenfalls erleichtert gewesen, ihren Sohn unversehrt wieder zu haben.
„Apropos Haus – möchten Sie, dass ich Sie herumführe und Ihnen alles zeige?“, fragte er Carina lächelnd und wieder war sie fasziniert von seinem völlig entspannten, charmanten Lächeln, das er „draußen in der Welt“ so selten zeigte.
Auch Tahsin schien begeistert über eine Hausbesichtigungstour für die „schöne, deutsche Frau“, wie er sie bei sich nannte und so akzeptierte Carina gerne. Sie entschuldigte sich aber zuerst noch, um die Toilette aufzusuchen und ging ins Haus.
Während sie weg war, kam Ahmad an den Tisch um die beiden Herren des Hauses zu fragen, ob sie Wünsche hätten, doch Rayan lehnte ab.
Ahmad verneigte sich und entfernte sich rückwärts vom Tisch, wie es sich geziemte. Genau in dem Moment, als er sich nach einigen Metern wieder umdrehte, um vorwärts den restlichen Weg zurück ins Haus zu gehen, kam Carina aus der Tür. Er rempelte sie leicht an und Carina entschuldigte sich sofort bei ihm. Er seinerseits hielt es nicht für nötig, sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, allenfalls maß er sie mit einem geringschätzigen Blick und ging ohne ein Wort hinein, was Carina zu einem Kopfschütteln veranlasste.
Rayans Augen verengten sich kurz, er hatte die Begegnung von seinem Platz aus genau beobachten können, doch als Carina zurück an den Tisch kam, lächelte er bereits wieder.
Nur Julie, die ihren Adoptivsohn im Laufe der Jahre sehr gut zu lesen gelernt hatte, sah, dass seine Augen eine Nuance dunkler geworden waren, was nie ein gutes Zeichen war.
„Ich muss auch noch eine Minute etwas erledigen, dann komme ich zurück und wir können mit der Führung beginnen. Tahsin sei doch so nett und leiste Carina inzwischen Gesellschaft.“
Im Haus angekommen, fragte er den nächsten Bediensteten, wo Ahmad sei, er wolle sofort mit ihm sprechen. Der Mann eilte davon mit dem Versprechen, Ahmad ausfindig zu machen, er könne ja nicht weit weg sein.
Rayan wartete im Wohnzimmer auf ihn.
Als er bereits nach einer Minute herbeigeeilt kam, blieb er in respektvollem Abstand etwa einen Meter vor dem Scheich stehen und verneigte sich: „Ihr habt nach mir gesucht, Herr?“
Dieser überwand die kurze Distanz in so einer Schnelligkeit, dass die brutale Ohrfeige Ahmad völlig unvorbereitet traf. Fast wäre er gestürzt. Einen Moment lang wollte er abwehrend die Hände heben, wusste aber instinktiv, dass dies keine gute Idee gewesen wäre, so ließ er die Hände wieder sinken, als ihn im gleichen Moment schon die zweite Ohrfeige mindestens genauso heftig traf.
„Was fällt dir ein, mich so zu blamieren? Gäste in meinem Hause werden alle mit der gleichen Höflichkeit behandelt! Es ist mir egal, welche Probleme du mit Frauen haben magst, diese Frau ist es wert, dass ICH sie höflich behandele, also wirst du dir wohl nicht zu fein dazu sein?“, fuhr Rayan ihn leise, aber mit vernehmbarer Wut an.
„Wenn ich noch einmal mitbekomme, dass du dich ihr gegenüber nicht benimmst, wie es sich für einen Gast meines Hauses gehört, dann lernst du mich kennen.“
Und damit ließ er den vor Angst zitternden Ahmad stehen und ging wieder hinaus auf die Terrasse.
In dem Moment, als er in die Sonne trat, war sein Gesicht wieder völlig entspannt als wäre nichts gewesen.
Ahmad dagegen war leichenblass geworden und musste sich erst einmal setzen, um seine Nerven wieder in den Griff zu bekommen. Außerdem wollte er den Schmerz in seiner Wange etwas abklingen lassen. Er war froh, dass sein Herr so schnell wieder verschwunden war und er somit nichts hatte entgegnen müssen.
2001 - Oase von Zarifa - Die Wirkung der Wahrheit
Drei Tage nach dem Aufbruch der Amerikaner wachte Sedat auf.
Der Arzt hatte sie schon informiert, dass er die kritische Phase hinter sich hatte und auf jeden Fall überleben würde. Aber er hatte Bedenken geäußert über den weiteren Zustand, vermutlich würde er für immer gelähmt bleiben.
Hanif hatte sich vor diesem Moment gefürchtet, war aber auch erleichtert, dass Sedat zumindest nicht durch seine Schuld gestorben war. Und das mit der Lähmung glaubte er erst, wenn er es sah, schließlich war niemand so hart im Nehmen wie der alte Scheich.
Ein Mann brachte ihm die Nachricht, er solle sofort zu ihm kommen.
Dass Sedat vor allen anderen zuerst ihn sehen wollte, war ihm recht, so konnte er es wenigstens schnell hinter sich bringen.
Sie hatten eine kleine Hütte aus Palmenholz mit einem Dach aus Palmenblättern gebaut, um ihn vor der Hitze und den Fliegen schützen zu können. Tücher hingen vor allen Öffnungen.
Hanif zog den Vorhang beiseite und trat ein.
Sein Herr war sehr blass und sah eingefallen aus, aber er brachte ein dünnes Lächeln zustande, als Hanif an sein Lager trat. Verlegen trat er von einem Bein aufs andere. „Setz dich“, forderte Sedat ihn auf. „Es tut mir schrecklich leid! Ich wollte doch nicht …“, platzte Hanif heraus, als er auf den Kissen neben Sedat auf dem Boden saß.
„Ich weiß“, antwortete der alte Mann beruhigend, „und doch … weißt du, dass ich nie wieder ein Pferd besteigen werde?“
Hanif schluckte, also stimmte das mit der Lähmung. Bei Allah - was hatte er getan!
„Hör zu, es gibt etwas, das ich dir sagen muss“, fuhr der Scheich fort. „Du warst in den letzten fünf Jahren wie ein Sohn für mich“, und wieder lächelte er dünn. Man konnte sehen, dass er noch immer starke Schmerzen hatte. „Darum hast du eine Erklärung verdient. Du hast dich gewundert, wieso ich Yasin Tanner so sehr vertraue.“ Bei der Erwähnung des Namens fuhr Hanif zusammen.
Der Scheich tat, als bemerke er es nicht: „Ich habe ihm versprochen, sein Geheimnis niemandem zu verraten, aber du hast, wie gesagt, eine Erklärung verdient: Yasin Tanner ist nicht sein richtiger Name. Sein Name ist Rayan Suekran – und er ist mein Sohn. Viele Jahre lang hatte ich gedacht, er wäre von uns gegangen, doch das war lediglich eine List seiner Großmutter. Erst vor wenigen Tagen habe ich erfahren, dass er noch lebt und ich danke Allah für diese zweite Chance!"
Hanif meinte, nicht richtig gehört zu haben. Nicht nur, dass sein Sohn - der ihn verraten hatte! - nicht tot war, nein er hatte auch noch die Dreistigkeit hier herumzustolzieren, als gehöre ihm die Welt. Und noch schlimmer: Der Scheich fand das eine ausreichende Begründung, um ihm zu trauen? Was hielt ihn davon ab, ihn ein zweites Mal zu verraten?
Hanif war sprachlos. Sein schlechtes Gewissen wegen des Mordversuchs war nun völlig verschwunden. Er hätte beinahe einen Verräter erledigt! Auf Verrat stand der Tod – er hatte also richtig gehandelt. Einen Verräter zu töten - darauf stand in anderen Stämmen ein hübsches Sümmchen. Was also war hier anders?
Während Hanif noch seinen Gedanken nachhing, öffnete sich der Vorhang und herein kam ER. Wenn man vom Teufel spricht …, dachte sich Hanif noch.
Der Scheich lächelte ihn an. „Rayan - komm doch herein, wir haben gerade von dir gesprochen“, sagte er freundlich.
Das Gesicht von Rayan spannte sich bei der Nennung seines richtigen Namens an. „Du hast ihm doch hoffentlich nichts erzählt?!“, fragte er atemlos.
„Verzeih mir, mein Junge, aber Hanif ist mir treu ergeben, er