Oie wusste nicht, was das sollte. Warum verstand er ja – aber wie sollte das gehen? Ein Denkmal? Wofür genau? Wie? Was war Igor Antonows Anliegen? Wollte der Geheime sich auf diese Weise, nach seinem Tode und durch die Hintertür, einen Platz in der Geschichte sichern? Sollte er dafür alles stehen und liegen lassen, sich absehbar mit Geheimdiensten anlegen und möglicherweise seinen Kragen riskieren? Fünf Jahre vor dem Ruhestand, und mit einer Familie, die ihn brauchte – sollte er das wirklich tun?
Wie nahe ging ihm das alles wirklich noch?
Merkwürdigerweise bei Weitem nicht so nahe, wie der kürzliche Tod seines Schul-Freundes Daysi, den er fast dreißig Jahre nicht gesehen hatte, und der doch auf eine Weise mit seinem Leben verbunden war, die mit Igor - dem so offensichtlich abgetarnten Maschinisten im Räderwerk der Geschichte - nicht vergleichbar war.
Lag es daran, dass, wenn Schulfreunde sterben, Teile unserer schönsten Kindheitserinnerungen ins Vergessen abwandern, ein Teil von uns stirbt, den wir um keinen Preis der Welt verlieren möchten?
So wie beim Bruder, dessen Tod ihm, in Verbindung mit dem des gemeinsamen Jugend-Freundes, auf einmal wie ein Schlusspunkt, wie das nahende Ende auch seiner Tage erscheinen musste.
Diese Erinnerungen ließen seine Hände zittern und er schaute, im warmen, die Augen trocknenden Aufwind der Fensterbank, nun wieder auf den Brief – und las noch einmal, wie im Traum.
Gedanken durchschossen ihn wirbelnd. War Igors posthumer Auftrag nicht die Chance die Nebel zu lichten, die noch immer über ihrer Freundschaft lagen?
Sie waren ja über die Jahre nur lose verbunden, gelegentlich und über einzelne Ereignisse, deren Bedeutung Oie damals nicht einschätzen konnte – die mit diesem Brief jedoch wieder auf den Prüfstand kamen.
Jetzt, so fühlte er, gab es die Chance, Hintergründe und neue Facetten eines immer noch schemenhaften Bildes von Igor Antonow – dem geheimen Drahtzieher zur Deutschen Einheit – zu entdecken, und das lockte ihn mehr, als er es sich in diesem Augenblick eingestehen mochte.
Er schaltete den Laptop ein, sichtete die Daten auf der CD, die nach Ländern des Ostens geordnet waren, und fand darunter einige bekannte und viele ihm unbekannte Namen. Aber immer zugeordnet bedeutende Institutionen, Dienststellen und Funktionen. Das zog sich als Prinzip durch und basierte offensichtlich mit Goethe, den Antonow so verehrte, auf der Erkenntnis – Dass wir jemand sein müssen, um etwas zu bewirken!
Auch die Überschriften der Länderblöcke und augenscheinlichen Operations-Gebiete elektrisierten Oie, denn da stand über dem Sowjetischen Teil Prelomlenie – was er in der Übersetzung als Lichtbrechung zu deuten wusste – mit dem Zusatz Kreml-Flug.
Der Finnische Teil, mit einer Handvoll Namen, stand mit deutscher Überschrift auf der Liste und war mit Operation Abendlicht benannt, – und ebenfalls mit dem klein gedruckten Zusatz: Kreml-Flug.
Weiter folgend auf der Liste stand bei einem Dutzend polnischer Namen die Überschrift Operation Morgenlicht. Über dem ungarischen Teil war Operation Schlaglicht vermerkt, gefolgt vom tschechischen Teil, der mit Operation Herbstlicht gekennzeichnet war.
Den Schluss bildete eine längere Liste von Namen und Adressen, die auf den ersten Blick von der damaligen DDR geografisch begrenzt wurde, und die Operation Lichtstrahl hieß – was dem Russischen Ljutsch entsprach.
Oie fand unter den etwa hundert Namen im deutschen Operationsgebiet eine Anzahl ihm namentlich bekannter Fachleute aus Wissenschaft, Technik, Kultur und Militär – einige waren unterstrichen. Dass auch sein Bruder Otto van Oie mit dem Decknamen Topograf darunter war, überraschte ihn nicht wirklich.
Bei näherem Hinsehen war im deutschen Teil kein Akteur aus der alten Bundesrepublik. Die waren ja, so erinnerte er sich, in anderem Zusammenhang auf den geheimnisvollen Rosenholz-Dateien und betrafen angeblich niemanden von aktueller Bedeutung in Politik und Wirtschaft.
Aber das Zusammenspiel dieser Rosenholz-Dateien mit der vor ihm liegenden Liste Antonows würde in der Zukunft vielleicht Aufschlüsse über fundamentale Zusammenhänge bringen – so vermutete er spontan.
Nur – war das gewollt, würde das irgendwen interessieren? Störte es die bisherige Weltsicht vom Wunder der Bürger-Revolutionen des Ostens, angeführt vom Heiligen Geist weniger so genannter Dissidenten, Bürgerrechtler und rhetorisch geschulter Geistlicher – von denen er keinen auf der Liste sah – nicht gewaltig?
Eine Fülle von Fragen durchfurchte sein Gehirn, bis zu einem kurzschlussartigen Versagen. Er konnte es nicht zu Ende denken.
Etwas aber war ihm ins Herz gefahren und die Gedanken daran ließen es höher schlagen. Es war die Information über seinen Bruder, die ihn elektrisierte und alles Andere in den Hintergrund drängte. Endlich ein Hinweis – wenn auch ein trauriger. Oberst a.D. Nikolai Nikolajewitsch Ossipow stand auf der russischen Liste, – mit der Anmerkung: Mönch im Höhlenkloster Nischni Nowgorod.
3 Die Grauen nehmen die Spur auf
Oie konnte nicht ahnen, dass schon kurz nachdem er Bulgakows Kanzlei verlassen hatte, dessen Sekretärin zum Telefon griff und mit ihrer Schwester in Moskau sprach.
Nachdem sie alle Erlebnisse der letzten Tage ausführlich beschwatzt hatten, kam der vereinbarte Schlüsselsatz: »Olga, ich habe jetzt die Adresse des Haut-Spezialisten für dein Problem in Berlin gefunden. Ich schicke sie dir heute nach Dienstschluss.«
Am selben Abend wurden die Adressen des Absenders und des Empfängers der ominösen Briefsendung nach Moskau übermittelt.
Schon am nächsten Tag versammelte sich ein operativer Stab des RSG – des Russischen Staatlichen Geheimdienstes – der Nachfolgeorganisation des einstmals allmächtigen KGB der Sowjetunion. Eine kleine Gruppe von rauchenden, schlecht gelaunten, älteren Männern in Zivil beriet, was zu tun sei.
Man hatte ja immer noch nagend-offene Rechnungen mit dem Militär-Geheimdienst, dem Igor Antonow einst angehört hatte. Vor allem mit seinen Führern, welche die Wirren der Nach-Wende ins neue Russland unbeschadet überstanden hatten. Im Gegensatz zum KGB, der in der öffentlichen Wahrnehmung für alle Facetten des Unrechts der verflossenen Sowjetunion verantwortlich gemacht und aufgelöst wurde.
Dieser nachhallende Groll und die Aussicht auf eine letzte Chance, erlittene Erniedrigungen zu rächen, wirkten wie ein Schuss Kokain in die Hirne der über die Jahrzehnte im Dienst verstaubten Offiziere.
Schon in der Nacht wurde die Moskauer Wohnung der Familie Antonow, die sich zur Sommerzeit auf ihrer Datscha bei Jaroslawl an der Wolga befand, besichtigt. Diskret, und ohne Spuren zu hinterlassen, filzten die RSG-Spezialisten das Arbeits-Zimmer Antonows, das seit seinem Tode unverändert und eine Erinnerungsstätte der Familie war.
Der zehn Jahre alte Sicherheits-Code des Computers wurde durch die Fachleute problemlos geknackt. Sie kopierten alle Dateien. Dann bauten sie die Festplatten aus, um die entleerten Papierkörbe durch eine Spezialabteilung für Daten-Rekonstruktion sichten zu lassen.
Bei der Auswertung der gelöschten Dateien am nächsten Tag stieß der RSG auf Listen, in denen Igor Antonow die Agenturischen Mitarbeiter und die Einflussagenten des Militär-Geheimdienstes in den Ländern des Ostens, Westeuropas und Skandinaviens säuberlich aufgeführt hatte. Auch fanden sie vielfach Hinweise auf ominöse, gegen den KGB gerichtete Licht-Operationen – und Hinweise auf eine intensive Arbeit mit zugeordneten Dateien, im Jahre vor Antonows Tod.
Der sichtbare, tabellarisch erfasste Umfang ihres Nichtwissens über diese Operationen schockierte die altgedienten, zynischen Pfeiler der verflossenen Roten Macht, ohne dass sie es sich gegenseitig eingestehen mochten – denn eigentlich war es ihnen peinlich. Nur von Verrat knurrte es abwechselnd, mehr frohlockend als erschüttert, in allen Tonlagen.
Endlich hatten sie die Leichen im Keller des Militär-Geheimdienstes, die sie so lange suchten, den offensichtlichen Verrat am Vaterland – vor allem auch den Verstoß gegen eingebrannte, eherne Spielregeln der konspirativen Arbeit.
Nun