Sein alter, nun toter Freund Igor Antonow, zu dessen Nachlass er jetzt fuhr, begründete das bei einer ihrer letzten Begegnungen überzeugend, als er sichtbar unter dem Chaos der Jelzin-Ära litt und an seinen Abschied vom Militär-Geheimdienst dachte: »Nur Vertrautheit, die auf Beständigkeit gründet, macht das Leben lebenswert und schafft sturmfeste Konstanten in einer Welt rasanter Variablen, die täglich drohen, unser Gehirn zu sprengen.«
So sah es auch Oie.
Sie hatten sich einst – Mitte der Achtzigerjahre – im sommerlichen Moskau kennengelernt, als er auf dem Freigelände der WDNCHa, der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der Sowjetunion, seine Stadtmöbel ausstellte. Oie hatte, als Gestalter und Mitglied des Künstlerverbandes – damals eine Voraussetzung zur freiberuflichen Arbeit – den Auftrag dazu bekommen.
Im Rahmen einer designzentrierten Leistungsschau der DDR-Wirtschaft sollte er den öffentlichen Raum auf dem zugeordneten Freigelände der Ausstellungshalle so gestalten, wie er es damals in seiner Stadt so exemplarisch angepackt hatte.
Mit dem größten verfügbaren Sattelschlepper schafften sie die Ausstellungsmuster nach Moskau. Dort baute er mit seinem Bruder Otto als Gehilfen eine Woche lang seinen Stadtmöbel-Baukasten von Haltestellen, Informationselementen, Normaluhren, Bänken, Kinder-Gartenmöblierungen, mobilen Marktständen, Leuchten und Fahrradständern auf.
Aus starken, karminrot lackierten Stahlrohren, bernsteinfarbenen Polyesterdächern, lasierten Hölzern, farbig durchscheinenden Sonnensegeln und grafisch gestalteten Emailletafeln waren sie in Material und Verarbeitung von einer bisher im Osten nie gesehener Ästhetik.
Erst wurden vorgefertigte Fundamente in die Wiese gelegt, dann die in der Heimat hergestellten, roten Stahlrohr-Konstruktionen aus Bauteilen errichtet und schließlich alles komplettiert.
Und jeden Morgen saß ein gut gekleideter Herr mit Hut und Aktentasche für eine Zigarettenlänge auf einer Bank am Freigelände und sah ihnen dabei zu. Dann grüßte er, indem er seinen Hut lüftete, und ging seines Wegs, – zur Arbeit, wie es schien. Oie konnte die Uhr danach stellen, was er im Angesicht der etwas chaotischen Begleitumstände, dieser Reise in die Sowjetunion unter den Leiden der gerade von Gorbatschow verkündeten Prohibition, im Nachhinein als merkwürdig empfand.
Als alles aufgebaut war, sie nur noch die Schilder polierten und der fremde Herr wieder eine Weile geschaut hatte, kam er herüber. Er stellte sich vor – auf Deutsch mit leichtem Akzent: Konstantin Iwanowitsch Michakow, so hieß er damals – und war ein Außenhändler bei Mos-Film, wie er vorgab.
Er machte ein paar Komplimente und fragte Oie‚ ob er glaube, dass so etwas Schönes auch in der Sowjetunion hergestellt werden könnte? Damals war das eine typisch russische Frage. Oie kannte die diesbezüglich verwahrlosten Zustände im Zentrum der Proletarischen Welt-Revolution in Moskau schon nach wenigen Tagen und verstand Michakows Ansinnen.
Auch forderte es Oies technisch-pragmatischen Optimismus heraus – und er zeigte dem Interessierten die einfachen konstruktiven Details anhand der grafischen Blätter und Zeichnungen aus seiner Entwurfsmappe. Auch tat er seine Überzeugung kund, dass das klare, schöne Produkt immer mit der schön anzusehenden Zeichnung – dem ästhetischen Plan – beginne, und dass man handwerkliche Mängel der Produzenten durch präzisere Technologien kompensieren könne. Die Antwort war also: Ja, auch in der Sowjetunion ginge das.
Antonow, alias Michakow, war beeindruckt, bedankte sich und versprach am Abend zur offiziellen Ausstellungseröffnung zu kommen. Auch wollte er einige Freunde mitbringen. Diese gehörten, wie Oie später herausfand, zu den so genannten Germanisten in der politischen Szene Moskaus, eine Bezeichnung für einflussreiche Politiker des Kreml, die auf Grund ihrer Aufgaben der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte nahe standen.
So fing alles an, – und nun, nach über fünfundzwanzig Jahren, wurde Oie zu diesem Notar namens Bulgakow bestellt, von dem er noch nie zuvor gehört hatte.
Er kurvte durch ein ausgetrocknetes, nach Auspuffdünsten und Staub muffelndes Berlin, das die heraufziehende, unerbittliche Hitze des Tages ahnen ließ. Die Windstille der letzten Tage ließ schon früh eine Dunstglocke entstehen, deren waberndes Gelbgrau die Stadt wie mit einem Farbfilter überzog.
Von Ampel zu Ampel schnürte ihm sein Asthma mehr den Hals zu und die gefühlte Temperatur stieg, – wie ein beunruhigender Indikator kommender Ereignisse. Als ahnte sein Körper, dass ihn das Kommende zutiefst erschüttern würde, und dass bald Tage folgen sollten, an denen eherne Gewissheiten in einer Flut neuer Hintergründe zusammenstürzten.
Pünktlich um zehn Uhr trat er in die Kanzlei im ersten Stock eines imposanten Berliner Gründerzeitgebäudes. Dunkles Eichenholz auf dicken Teppichen, grünes Chrom-Leder und vergoldeter Möbelzierrat, über dem ein aromatischer Geruch von Zigarre schwebte, empfingen ihn.
Der Notar war auf den ersten Blick, in Garderobe und Bewegung, ein aristokratischer Typ. Er war zuvorkommend höflich, und seine filmreife theatralische Gestik war mit diesen kleinen Pausen versehen, die der geschäftliche Angler benutzt, bis der Fisch fest angebissen hat.
Der Erfolg seines Tuns war in der üppigen Ausstattung seiner Residenz-Kanzlei sichtbar: eine hochherrschaftliche Büroflucht im Stile der Zarin Katharina, der in allen Facetten, mit Bildern, Karten und kostbarem Interieur dieser Zeit präsent war.
So gelang auch der schnelle Einstieg in die Geschichte und Poesie preußisch-russischer Beziehungen. Ein kurzer Austausch über die anhaltinische Prinzessin Katharina, die der Große Friedrich der Zarin Elisabeth – der Mutter des künftigen russischen Zaren – als dessen Gattin verschrieben hatte. Wie ein Apotheker, der genau dosiert, was hilft. Das wiederum rettete dem später von Feinden umgebenen Friedrich den Hals.
Eine der ersten gelungenen, konspirativen, strategischen Operationen in der neueren Geschichte der Diplomatie zwischen Preußen und Russland – da war man sich schnell einig. Bulgakow erzählte auch von der Verbindung seiner Familie nach Deutschland, da diese, wie tausende Wissenschaftler, Beamte und Intellektuelle der Zarenzeit, nach der russischen Revolution in Berlin eine neue Heimat gefunden hatten.
Dann rief er über die Gegensprechanlage nach seiner Sekretärin, stand auf und fingerte einen Schlüssel aus seiner Weste, mit dem er den Tresor aufschloss, der sich hinter ihm in der barocken Bücherwand befand. Er suchte etwas umständlich und entnahm ein Kuvert.
Auf Oies Frage, warum der Brief denn hier sei, und nicht auf einem Postamt, wedelte Bulgakow damit und schloss seine Froschaugen für eine etwas zu lange Sekunde – wie das Tier vor dem Sprung.
Notariell gravitätisch formulierte er, sich setzend, vorsichtig: Es gehe um ein Vermächtnis, das er zu erfüllen hätte. Ein Emissär, wenn man eine ältere Dame aus dem Umkreis der Familie Antonow so nennen könne, hätte den Brief vor ein paar Tagen aus Moskau gebracht.
Wie auf ein Stichwort trat Bulgakows Sekretärin hinzu: eine üppige Blondine in leichtem, geblümten Sommerkleid. Mit weißem Teint und stark geschminkt, war sie der Prototyp der russischen Schönheiten, die Oie schon damals auf besondere Weise faszinierten. Wie Blumen vor dem Verwelken, die in einem letzten Farbenrausch die Bienen locken. Die einschwebende Duftwolke ihres teuren Parfüms war wie eine benebelnde Bestätigung.
Ein Formular vor den Notar auf den Schreibtisch legend, warf sie einen kurzen Blick auf den offenen Tresor und musterte den Gast misstrauisch aus den Augenwinkeln, als müsste sie sogleich ein Echtheits-Zertifikat seiner Person zu Protokoll geben.
Als sie Oies bewunderndem Blick begegnete, fragte sie mit dem erwarteten Augenaufschlag und singendem Akzent, ob die Herren Kaffee wünschten. Der Notar empfahl Eis-Kaffee.
Die Blondine verschwand ihn zu holen.
Bulgakow drehte und wendete das gepolsterte Kuvert einen Augenblick zögernd, bevor er es mit einem Ruck, dem Froschblick und freundlichen Worten über den Tisch reichte: Er freue sich es auszuhändigen, wisse