Oie, der es im Zweifelsfall vorzog den Stier bei den Hörnern zu packen, musste, das fühlte er, sein inneres Gleichgewicht wiederfinden – auch um künftige Optionen realistisch beurteilen zu können.
Wie in einer ablenkenden Selbsthypnose machte er am Morgen nach Sichtung der Haus-Bibliothek einen Leseplan und nahm sich im Angesicht neuerer Ausstellungskataloge vor, einige Künstlerkollegen in Reichweite zu besuchen.
Es gab so gute Erinnerungen an damals, an die kreative Zusammenarbeit bei den Gestaltungs-Projekten auf dem Lande, deshalb wollte er den alten Freunden nach langen Jahren wieder die Reverenz erweisen – und versprach sich auch daraus klarere Sicht auf das Wesentliche.
Raumwechsel im Figurentheater nannte er es in seiner Kreativ-Methodik bei den Gestaltungs-Projekten.
Vielschichtiges Umdenken aus dem Umschreiten der Sache – unter dem Eindruck von Anforderungen, Persönlichkeiten, Geschichte und Gegenstand – ohne die zentrale Fragestellung vordergründig auf dem Radarschirm zu haben. Das war die Methode seiner Wahl, um aus diesem Labyrinth der vagen Möglichkeiten einen Ausweg – den Ariadne-Faden – zu finden.
Damit unterschwellig verbunden war die Suche nach bodenständigen Maßstäben des Handelns, so wie zu Zeiten der Perestroika und ihrer sich aufschwingenden seismischen Wellen, als sie fast täglich unter Künstler-Kollegen diskutierten. Als es darum ging, was wichtig ist, was menschlich, was produktiv und machbar ist – was moralisch ist und was wahr. So, erinnerte er sich, war es jedenfalls bei den Idealisten und Leistungsträgern vor der Kunst, zu denen er seinen Freundeskreis damals zählte.
Dieser nachhallende, konstruktive Idealismus und die Erinnerungen an die gemeinsamen Projekte wärmten seine Seele und weckten Vorfreude auf die Begegnungen, – dabei ahnte Oie nicht, dass seine Fluchtburg bereits identifiziert war und ein Kommando rekrutiert wurde, seiner dort habhaft zu werden.
5 Oie begegnet den Grauen
Am dritten Tag hatte er sich am späten Vormittag auf den Weg gemacht und war die zwanzig Kilometer gefahren, um am Rand der Feldberger Seenplatte den Bildhauer Ulm Moros und seine Frau Linde zu besuchen. Sie lebten auf einem abgelegenen Dreiseitenhof, von Obstbäumen umgeben, an einem kleinen See, zugehörig einem benachbarten Dorf namens Lichtenhain.
Das bescheidene, wohl gestaltete, pastellig-stuckverzierte, eingeschossige Bauernhaus aus der Kaiserzeit lag direkt an der großstämmigen Eichen-Allee nach Feldberg.
Niemand war zu Hause.
Oie klemmte einen Zettel mit seiner Funknummer und einem Gruß für Ulm und Linde hinter das Hoftor. Er hatte darauf versprochen, es am Abend noch einmal zu versuchen. Dies im Hinterkopf schaltete er sein Funktelefon wieder ein, und fuhr auf den sanft-welligen Landstraßen der Uckermark mitten durch die traumhaften Farben des Landsommers nach Franzfelde.
Auf den letzten Kilometern bockelte der Niva über die Russenstraße. Im beunruhigenden Rütteln des Kopfsteinpflasters siebten sich seine Gedanken von der Spreu der Umstände, in die er geraten war.
So unmittelbar wie das Schütteln aufhörte, weil die Gefangenen, die diese Straße einst bauten, am Ende des Krieges zurück in ihre Heimat konnten, wie die Alten erzählten, so unmittelbar bekam er jetzt Hoffnung eine Idee und Verbündete zu finden, um Igor Antonows Auftrag zu erfüllen und das Schicksal seines Bruders zu klären.
Alles wird gut, der Kalte Krieg ist ja vorbei, beruhigte er sich, – da sah er, an den Abzweig nach Franzfelde herangefahren, über den weiten Stoppel-Acker, Chromblitze einer schwarzen Limousine bei Almas Gutshaus.
Es war ein etwas zu großes Auto für Künstler und für diesen Landstrich – vor allem aber stand es auf dem Rasen am Haus, auf dem nicht Freunde stehen und auch nicht Besucher.
Der alte Fuchs, der Jagd-Stress witterte, stieg ihm in den Nacken. Die Arme versteiften sich und er fuhr weiter geradeaus.
Am Feldweg hinter dem nächsten Hügel bog er nach links und zog in dessen Deckung über einen frisch gepflügten Acker.
Die Vierrad-Antriebe des russischen Last-Esels kreischten ins Innere, wie wenn sie eine Ahnung davon hätten, dass es zur Sache geht, und alarmierten ihn vollends. Mit jedem Meter, den er sich dem Gutshaus auf dem Gelände-Parcours näherte, stieg die Spannung.
Hinter den abschirmenden Buschgruppen am Park schaltete er die Zündung aus und ließ den Wagen auf dem Rasen ausrollen.
Er sprang hinaus und ging zwischen den großen Gehölzen im Bogen um den Weiher von hinten auf das Haus zu.
Beim Blick auf die unberührten Gartenmöbel zerstoben seine letzten Hoffnungen, doch noch harmlosen Besuchern zu begegnen, die früher dort warteten, wenn niemand im Hause war.
Jetzt hätte er gewarnt sein sollen, aber sein Naturell war das eines Draufgängers, was seine Frau Katha progressiven Leichtsinn nannte, wenn die Situation wie jetzt undurchsichtig wurde.
Diese Haltung kam, als Kindheitsmuster, schon aus dem Buddelkasten und vom oftmals turbulenten Bauernhof seiner Eltern. Da Oie damit ein respektables Alter erreicht hatte, sah er auch diesmal keinen Grund zurückzuschrecken.
In der Deckung der Hauswand, am Sockel entlang, stieg er auf die steile, steinerne Gartentreppe, die zum Kücheneingang führte, dessen mit farbigen Glas-Applikationen ausgefachte Tür verschlossen schien.
In der Küche war niemand, soviel konnte er überblicken, und so drehte er lautlos die Flügelmutter auf der Gartenseite, von der nur Eingeweihte wussten, dass sie über eine Achse mit der inneren Hakensperre verbunden war.
Als er die Tür lautlos einen Spalt weit geöffnet hatte, schoss der silbergraue Karthäuser-Kater Aramies mit unwirklich aufgeplustertem Fell wie ein Blitz durch seine Beine – die Treppe im gestreckten Galopp nehmend – unter die nahen Büsche.
Den Grund erfasste er mit einem Blick. Auf den grün-weißen Schachbrett-Fliesen der Gutsküche lag Franz der Dackel in seinem Blut und rührte sich nicht mehr. Oie schockierte dieser Anblick und eine unbeschreibliche Wut stieg in ihm auf, denn der Bauernsohn in ihm konnte zum Attischen Elch werden, wenn auch nur irgendjemand einem Tier etwas zuleide tat. Wer macht so etwas? Warum?
Gespannt wie eine Sprungfeder, den Mörder riechend, griff er instinktiv nach der Hacke neben der Tür. Er streifte die knarzigen Sandalen ab und schlich in Richtung Bibliothek, aus der er raschelnde Geräusche vernahm.
Die Bibliothek war das ehemalige Zimmer der Köchin, die über einen Flur, von dem Türen der Speisekammern und Vorratsschränke abgingen, mit der Küche verbunden war.
Den Stiel der Hacke fest und schräg vor der Brust, wie er es in den japanischen Kampf-Künsten erlernte, hatte er die offene Tür zur Bibliothek gerade erreicht, da umflutete ihn eine Fahne von Schnaps-Schweiß, und ein großer, fetter Schatten, den wohl der Luftzug aufscheuchte, der seinen geräuschlosen Kücheneintritt spürbar begleitete, stand wie ein Scherenschnitt im Gegenlicht.
Ehe Oie auch nur etwas sagen konnte, schossen dessen Arme, zwischen denen ein blanker Draht blitzte, in Richtung seines Kopfes.
Oie – klein von Statur – duckte sich instinktiv ab. Der Draht traf den Stiel und er musste dieser heftig anprallenden oberen Bewegung nur noch verstärkend folgen, sodass dem Angreifer die eiserne Hacke von unten aufwärts zwischen die Beine fuhr.
Das erzeugte einen orgelnd-gepressten Schrei, wie er ihn nur aus dem Theater in Erinnerung hatte. Der jaulend-fluchende Schatten fing sich und griff vorschnellend, über die Hacke, die Oie sausen ließ, nach seinem linken Arm. Auch diese Bewegung wurde übernommen.
Reflexartig, wie er es Tausende mal trainierte, griff Oie dessen Ärmel, riss heftig, und sichelte sein rechtes Bein hinter das vorrückende, Halt suchende rechte Bein des Schattens.
Der erstaunt grunzende Gegner vollzog unfreiwillig