Die degenerierten Herren bei Militär und Geheimdiensten auf allen Seiten, in vielen Ländern, die sich gegenseitig hochschaukelten und Bedrohungslagen schufen, die es ohne sie nie gegeben hätte – wie ein Krebs seine Metastasen schafft und immer weitere Bereiche der Gesellschaft befällt.
Nur zu einer Zeit konnte ich – konnten wir – stolz sein. Das war, als wir gemeinsam den strategischen Umbau Europas zum großen Frieden auf den Weg brachten, um den Kalten Krieg zu beenden.
Die Europäische Perestroika, die wir hinter der sowjetischen Perestroika absichtsvoll verborgen hielten, verborgen halten mussten, wenn wir Erfolg haben wollten.
Die Operationen, vom Kreml-Flug über die Bewältigung der Polenkrise, die Grenzöffnung in Ungarn, die Beendigung der Botschaftsbesetzung in Prag, bis hin zum Fall der Mauer in Berlin, waren die Basis der Europäischen Perestroika, deren Friedensfrüchte heute viele genießen können.
Das macht mich glücklich und dankbar, obwohl ich mit Trauer an die denke, die dabei auf der Strecke blieben, weil das Volk sich die Errungenschaften dieser menschlichen Revolutionen, gegen das dumpfe Beharren der Apparate in dieser Welt der intriganten Mächte des Geldes, wieder aus den Händen stehlen ließ.«
Das saß. Oie fiel es wie Schuppen von den Augen. Wenn einer wie Igor Antonow, der, wie er nach all den Jahren wusste, die Operation Ljutsch dirigiert hatte, die auf bisher rätselhafte Weise mit dem Fall der Berliner Mauer und der Deutschen Einheit zusammenhing, wenn also Antonow sich zu all diesen Operationen bekannte, und dazu noch den strategischen Zirkel so weit zog, dann wirkte es in seinem Gehirn wie eine Flut von Frischzellen.
Das war Geschichte aus einer völlig anderen, bisher unbekannten Perspektive – das wurde ihm schlagartig klar.
Die friedlichen Revolutionen in den Ländern des Ostblocks hatten offensichtlich einen bisher nicht bekannten geheimdienstlichen Hintergrund. Aber was war das für ein strategischer Plan, der da durchgezogen worden war?
Er sprang auf, lief durchs Zimmer wie im Nebel und war wie elektrisiert.
Viel gefühlte Zeit war vergangen, als er sich setzte, um weiterzulesen: »Teurer Albrecht, Politiker-Chargen spreizen sich mit ihren Beiträgen zum Fall der Berliner Mauer, zum Ende des Kalten Krieges und zum Frieden in Europa. Dabei werden diejenigen vergessen, die diesen Umbau, die Europäische Perestroika, entworfen, geplant und organisiert haben. Neben den Bürgerrechtlern, die danach kamen und darauf aufbauen konnten, waren sie die wirklichen Helden.«
Und weiter: »Schaff ein Denkmal für diese Helden des Rückzuges, für diese Idealisten in einer von Macht und Geld besessenen Welt – ich weiß, Du kannst das – Du bist für mich ein wahrer Künstler und nur solche können das!«
Oie war verblüfft über diese Schmeichelei und ratlos zugleich. Wie sollte das gehen? Sollte er diesen Brief veröffentlichen, das Inkognito Antonows lüften und die Medien aufscheuchen? Das meinte Igor sicher nicht im Ernst. Und wer würde dem Glauben schenken? Wem sollte das nützen? Und warum hatte Antonow das nicht schon selbst getan? Sollte er benutzt werden? Wo waren Fakten?
Weiter las er: »Sicher erinnerst Du dich an unsere Begegnung im Muchina-Institut in Leningrad, vor dem Diplom eines namenlosen Bildhauers der Klasse für Monumental-Skulptur. Da stand ein stark verkleinertes Modell für ein Lermontow-Denkmal auf dem Lande in meinem geliebten Heimatdorf. Vor dem Gutshaus der Großmutter des Dichters, wo er seine Kindheit verbracht hatte, sollte es stehen. Ein sitzender Dichter mit großer Geste und aufgeschlagenem Buch in der Hand, in Bronze.
Das Probestück aus Ton, im künftigen Originalmaßstab, war ein bestiefeltes Bein Lermontows bis zum Knie – aber dieses Knie konnte niemand mit den Händen erreichen, so hoch war es.
Dein erfrischender Kommentar, als respektierter Deutscher Gast in Anwesenheit der Kulturfunktionäre, klingt mir noch heute in den Ohren: ›Unmenschlicher Maßstab! Monumentalität allein entfaltet keine Poesie – und darum geht es in der Kunst!‹
Das war Deine ernüchternde Zusammenfassung, die den Genossen in die Knochen fuhr und mich gefreut hat.
Oder der Design-Kongress der Sozialistischen Länder auf diesem ungarischen Renaissance-Schloss, als ein paar Alt-Stalinisten vorschlugen, das Zentrum sozialistischen Designs in Moskau zu gründen und Du das, in Deinem darauf folgenden Vortrag zu Eurer Arbeit für den öffentlichen Raum, so nebenbei und unter dem stürmischen Beifall aller Fachleute im Saal, als letzten Anflug von kulturellem Imperialismus abqualifiziertest.
Das war schon Mut in diesen Zeiten, und seitdem vertraue ich Deinem Spürsinn für den Geist der Sache und die mutige Form. Die danach drohenden diplomatischen Verwicklungen habe ich übrigens verhindert, wie ich auch in der Folgezeit oft die Hand über Dich halten konnte, wenn es gefährlich wurde und Du als Gestalter vom Apparat oder der Staatssicherheit beschädigt werden solltest.«
Oie war erstaunt, so Offenherziges von Antonow zu lesen, aber er nahm es als honorige Schlussbilanz eines kämpferischen Lebens und einer wahren Freundschaft.
Die Überraschung allerdings folgte am Schluss: der Verweis auf die unscheinbare, unbeschriftete CD.
»Als Hilfe für Dich, lieber Albrecht, bei der Umsetzung meines letzten strategischen Planes – mit Verlaub sagt man wohl seit Goethe – sende ich Dir die CD mit einer Übersicht über die wichtigsten Operationender Europäischen Perestroika – die Licht-Operationen.
Du findest geordnet, wie Du es als Kultur-Preuße erwarten darfst, Operationen, Decknamen, Klarnamen und Adressen beteiligter Akteure bei der Abwehr des Mächtigen und Blöden.
Namen von noch Lebenden, die Dir besonders nützlich sein könnten, habe ich unterstrichen. Mach etwas daraus, gedenke meiner in Freundschaft und auch all derer, die das Ende des Kalten Krieges und den Triumph des Lichtes nicht mehr erleben konnten.
Dazu gehört leider auch Dein Bruder Otto, an dessen Tod ich mich schuldig fühle, denn ich habe ihn damals, in der Vor-Wendezeit, auf eine Mission nach Moskau geschickt, auch – möchte ich zu meiner Entschuldigung sagen – um ihn aus dem Schussfeld der Staatssicherheit zu nehmen.«
Oie drückte mit dieser Information etwas gewaltig in die Magengrube, denn bisher galt Otto nur als vermisst – jedoch ohne irgendein Lebenszeichen seit über zwanzig Jahren.
Er las erschüttert weiter: »Ich habe Otto damals in diese neu entstandene Gruppe von Historikern empfohlen, die begannen, den Widerstand der Feinde der Perestroika zu bilanzieren, – denn Du weißt, nur was erinnert wird, ist wirklich geschehen.
Einen Einfluss auf die Geschichtsschreibung späterer Generationen bekommt man nur durch Fakten.
Er ist seitdem vermisst und es ist mir besonders wichtig, Dir und Deiner Familie zu sagen, wie leid mir das tut, denn jetzt gibt es Anhaltspunkte dafür, dass er das Opfer unserer Gegner wurde. Mein damaliger Stabschef Nikolai Nikolajewitsch Ossipow hat mir kürzlich davon berichtet. Das Schweigen Dir gegenüber, nach der Wende, hat auch damit zu tun, dass ich Dir sein Verschwinden nicht erklären konnte und mich schuldig fühle.
Bitte verzeih mir!
Dein alter Freund Igor Iwanowitsch Antonow.«
Tränen verschleierten Oies Augen, er erhob sich und lief wie im Nebel zum Fenster, um die sich asthmatisch verkrampfenden Lungen zu lüften.
Das mit Otto war nach so vielen Jahren für ihn in die Ferne gerückt, im Gegensatz zur älteren Schwester Maria, die, wenn nur Ottos Name fiel, zu Tränen gerührt war: »Nicht wissen, kein Grab« – sagte sie immer – »das ist das Schlimmste!«
Nun brach alles wieder auf, denn was wirklich geschehen war seit dem Sommer der Wende, als Otto auf seiner Reise durch die Sowjetunion so spurlos verschwand, hatten sie niemals erfahren. Dass Igor Antonow damals Auftraggeber war, vernahm er zum ersten Mal – und verstand dessen Schuldgefühle.
Einen Hinweis jedenfalls gab es jetzt, der ihn elektrisierte – Nikolai Nikolajewitsch Ossipow. Den musste er