„Ich halte dich nicht für verrückt!“ Anna fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ein wenig verwirrt im Moment, nicht verrückt.“
„Verwirrt! Ich muss hier weg.“ Mit diesen Worten stand Marie auf und stürmte in ihr Zimmer. Mit schnellen Griffen sammelte sie Handtasche und Jacke ein und verließ die Wohnung.
Am nächsten Morgen fand Anna mehrere Seiten mit Maries Handschrift vor ihrer Zimmertür liegen. Mit gerunzelter Stirn nahm sie die Aufzeichnungen und fing an zu lesen.
11. November (29. / 30. Mai 1793)
Flucht
Wieder ein Strand. Aber hinter mir erstreckte sich keine Stadt, sondern ein gedrungener Turm und Gestrüpp. Vor mir lag das Meer. Diesmal war es nicht ruhig, sondern aufgewühlt. In der Ferne erkannte ich eine Inselgruppe, die eigentümlich rot schimmerte. Die Blutinseln, fuhr es mir durch den Kopf. Die hatte Napoleone mir zeigen wollen. In der untergehenden Sonne sahen sie tatsächlich aus, wie mit Blut getränkt. Und obwohl der Anblick mich bezauberte, lief mir ein Schauer über den Rücken.
Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich fröstelte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Mit zusammengekniffenen Augen blickte ich aufs Meer hinaus. Die Wellen brachen einige Meter vor dem Ufer und spritzten Gischt in alle Richtungen.
Und dann sah ich es. Arme ragten aus dem Wasser, ein Gesicht, das sofort wieder in den Wellen verschwand, ein leises Wimmern. Ohne nachzudenken, rannte ich auf die Gestalt im Wasser zu. Das Meer umspielte meine Knöchel, meine Waden und ich kam immer langsamer voran. Diese vermaledeiten Röcke saugten sich mit Wasser voll und hingen wie Blei von meinen Hüften. Inzwischen erkannte ich, dass ein Mädchen mit den Wellen rang. In dieser Kleidung ein aussichtsloser Kampf.
Die Augen immer auf das Kind gerichtet, öffnete ich zwei, der insgesamt drei Röcke, die ich trug. Mühsam streifte ich sie ab. Sobald sie mit den Wellen davon schwammen, gelang es mir endlich, mich schneller zu bewegen. Das Mädchen hatte mich bemerkt und versuchte, auf mich zuzuwaten.
Noch ein paar Schritte, sie streckte mir ihre Arme entgegen und ich griff danach. Mit einem Ruck zog ich sie zu mir heran. Am ganzen Leib zitternd, drückte sie sich an mich. Ihr Kopf lag an meiner Schulter. Sie musste älter sein, als ich zunächst angenommen hatte. Ich schätzte sie auf vierzehn. Entsprechend schnell erholte sie sich und das Beben ihres Körpers ließ nach. Sie war voll bekleidet und die Wellen zerrten mit aller Kraft an ihr. Selbst zu zweit gerieten wir mehr als einmal ins Straucheln.
„Kannst du mich verstehen?“
Sie blickte mich mit großen Augen an und nickte.
„Wir müssen ans Ufer zurück! Halte dich an mir fest und stemme dich gegen die Wellen. Kannst du das?“
Wieder ein Nicken. Mit vereinten Kräften gelang es uns, den Strand zu erreichen und wir sanken erschöpft in den Sand.
Nach Atem ringend, lag ich mit geschlossenen Augen da und hörte auf meinen ruhiger werdenden Herzschlag. Sie brach das Schweigen: „Madame Seurat? Seid Ihr das?“
„Das bin ich.“ Sie kannte mich? „Und du?“
„Ich bin Paola Buonaparte. Erinnert Ihr Euch nicht?“
Das sollte die kleine Paoletta sein?
„Wo ist Napoleone? Ist er bei Euch?“ Sie blickte mich aus erwartungsvollen Augen an. Als ich den Kopf schüttelte, verfinsterte sich ihre Miene und sie ließ die Schultern hängen.
„Ist er nicht hier? Ich dachte ...“ Den Satz brachte ich besser nicht zu Ende. Ich hatte sagen wollen: 'Ich dachte, deshalb sei ich hier.'
„Warum bist du so weit weg von zu Hause, Paoletta?“
Sie legte den Kopf schief und blickte mich misstrauisch an. „Mama sagt, wir haben kein zu Hause mehr.“
„Aber wie ...?“
„Mama sagt, Napoleone käme uns holen. Mit dem Schiff. Ich bin ins Meer hinausgewatet, um besser sehen zu können, ob er kommt.“ Ihr Blick senkte sich. „Danke für meine Rettung. Aber er ist nicht da.“
„Wo ist er?“
„Er beschießt die Festung. Und wenn das nicht funktioniert, gehen wir nach Frankreich.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Ich denke, Mama wird das besser erklären können. Kommt!“ Sie nahm meine Hand und lief auf den Turm zu. „Ich glaube nicht, dass sie sich freuen wird, Euch zu sehen. Sie und Napoleone haben wegen Euch gestritten.“
„Wegen mir?“
„Oh ja, sie streiten jedes Mal wegen Euch, wenn er wieder auf Korsika ist.“
Jedes Mal? Wenn ich die bruchstückhaften Informationen, die ich hatte, zusammensetze, ergab sich ein relativ schlüssiges Bild, wo und wann ich mich befand – und es gefiel mir überhaupt nicht.
„Äh, Paoletta?“ Ich räusperte mich verlegen. „Wie lange ist es her, dass ich Napoleone auf Korsika besucht habe?“
Sie kniff die Augen zusammen und ähnelte ihrer Mutter und ihrem Bruder auf erschreckende Weise. „Beinahe drei Jahre. Warum ...“
Drei Jahre! Ich schlug die Hand vor den Mund. Verdammt! Aber eigentlich bestätigte das nur, was ich eh schon gewusst hatte. Der Turm war der Genueserturm Capitellu. Dort hatte Napoleones Familie auf ihn gewartet, als man sie aus Korsika vertrieb. Sie hatten sich einige Tage dort versteckt, bis er sie mit einem Schiff der französischen Kriegsflotte abholen kam.
Drei Jahre! Ja, da würde Signora Buonaparte nicht gut auf mich zu sprechen sein. Und Napoleone erst! Ich heiratete ihn und verschwand für drei Jahre.
„Alles in Ordnung, Mademoiselle?“
„Ja, natürlich. Ihr seid vertrieben worden?“
„Ja! Wir sind nachts aus dem Haus geflohen und nach Milelli gegangen. Aber dort haben sie uns gefunden. Also haben Matteo und Costa uns hierher gebracht. Napoleone hat sie geholt, um uns den Weg zu zeigen. Jetzt sind wir hier und müssen leise sein und dürfen nicht raus und langweilen uns ganz entsetzlich.“
Wir waren am Turm angekommen und Paoletta führte mich in einen feuchten, modrigen Raum. Durch die schmalen Schlitze der Schießschächte fiel wenig Licht und mir blieb verborgen, wieviele Menschen sich hier befanden.
„Paoletta“, hörte ich die scharfe Stimme ihrer Mutter. Den Rest verstand ich nicht. Paoletta antwortete und deutete auf mich. Meine Augen hatten sich an das Dämmerlicht gewöhnt und Letitia Buonaparte kam mit ausdruckslosem Gesicht auf mich zu. „Gebt mir einen einzigen Grund, warum ich Euch nicht auf schnellstem Wege aus diesem Turm befördern sollte!“
Ich schluckte und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Ihre Worte kamen mir in den Sinn: Wenn ich Napoleone verletze, würde ich mir wünschen, nie geboren worden zu sein. Nun, dank ihres Blicks war es fast so weit.
Aber es musste einen Grund geben, warum ich hier war! Was sollte es für einen Sinn haben, wenn sie mich jetzt hinauswarf?
Paoletta kam mir zur Hilfe: „Sie hat mir das Leben gerettet, Mama! Ich wollte sehen, ob Napoleone kommt und ...“ In lebhaften Worten, erzählte sie, was passiert war. Selbst in dem dämmrigen Licht sah ich, wie Signora Buonaparte erbleichte.
„Dann stehe ich in Eurer Schuld“, sagte sie in einem Tonfall, der die Hölle hätte gefrieren lassen. „Ihr dürft bleiben.“ Sie wandte sich ab und begann, auf ihre Tochter einzureden.
Dankbar, dass sie ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwandte, ließ ich mich auf dem Boden sinken. Die Rettungsaktion im Wasser hatte mich mehr angestrengt, als ich mir eingestehen wollte. Ich war immer noch klitschnass und das feuchte Klima im Raum ließ mich zittern.
„Bitte, Madame, nehmt die Decke, bevor Ihr Euch den Tod holt.“ Die Stimme hatte ich schon einmal gehört. Sanfte Hände legten etwas Warmes