„Darf ich eintreten, Madamoiselle?“
Völlig verdattert ließ ich ihn ein. Er war größer als sein Bruder, aber von ähnlich schmalem Körperbau. Das dunkle Haar trug er im Nacken zu einem Zopf gebunden und seine braunen Augen musterten mich kalt. Ohne Umschweife begann er zu sprechen: „Ich habe Euch für morgen eine Passage nach Frankreich gebucht. Hier sind die Papiere und Geld. Nehmt es und verschwindet!“ Er warf ein Bündel Papiere auf den Tisch. „Das Schiff läuft im Morgengrauen aus. Es besteht keine Notwendigkeit, meinen Bruder noch einmal zu belästigen.“
Es hatte mir tatsächlich die Sprache verschlagen. Da stand dieser knapp sechzehnjährige Junge vor mir und bot mir Geld dafür, dass ich seinen Bruder verließ. Ich atmete tief ein und Blickte ihn ruhig an. „Nein!“
Seine Augen verengten sich. „Ihr werdet Napoleone in Ruhe lassen. Ich weiß nicht, was Ihr mit ihm gemacht habt. Was ich weiß ist, dass er eine wie Euch unter normalen Umständen keines Blickes würdigen würde.“
Eine wie mich?
Er drückte die Schultern durch. „Nehmt das Geld. Es ist mehr als genug, um die nächsten Jahre gut leben zu können. Das ist es doch, was Ihr wollt! Dafür braucht Ihr meinen Bruder nicht.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Zimmer.
Ich blinzelte mehrmals und griff schließlich nach dem Bündel, das er auf den Tisch geschmissen hatte. Es enthielt Assignaten im Wert von 1000 Livres und eine Passage auf einer Fähre.
Verwundert ließ ich mich auf einen Stuhl sinken. Wie sollte ich das denn jetzt bitte verstehen? Mein Blick glitt zu dem kleinen Fenster des Raums und was ich da sah, verschlug mir die Sprache. Die Stunden vergingen im Zeitraffer. Binnen Sekunden zog der Mond an meinem Fenster vorbei und die Sonne ging auf. Schon klopfte es wieder an meine Tür. Diesmal fragte ich zaghaft: „Ja?“
Zu meiner Erleichterung war es Napoleone, der antwortete: „Möchtest du einen Ausflug machen?“
Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Und ob ich das wollte! Weg von diesem Haus und dieser Familie! „Komm rein, ich bin gleich fertig!“
Schnell füllte ich etwas Wasser in die Waschschüssel und fuhr mir mit den Händen durchs Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah ich Napoleone eintreten.
Er lächelte mich an und erstarrte im nächsten Moment. „Was ist das?“ Schnell griff er nach den Papieren auf dem Tisch.
Verdammt! Ich hätte sie nicht offen herumliegen lassen sollen! Aber ich hatte ja gar keine Zeit gehabt, sie wegzuräumen.
„Du hast eine Passage gebucht? Für heute?“ Er sprach mit unterdrücktem Zorn.
„Nein, habe ich nicht!“
„Ach nein? Und was ist das?“ Er wedelte mit dem Papier in meine Richtung.
„Eine Passage! Die ich nicht gekauft habe!“
Eine unruhige Handbewegung sollte mich zum Weitersprechen bringen.
„Luciano hat sie mir gegeben“, flüsterte ich und blickte zu Boden.
„Luciano?“ Napoleone begann, nachdenklich im Raum auf und ab zu gehen.
„Ja. Er kam gestern Abend und hat deutlich gemacht, dass ich dich und die Insel verlassen soll – wenn nötig für Geld.“ Mein Blick fiel auf die Assignaten.
Napoleones Augen folgten meinen und wurden groß, als er die Scheine sah. „Wo hat er die her?“
Ich zuckte mit den Schultern. Das wusste ich beim besten Willen nicht.
Napoleone nickte nachdenklich. „Darum kümmere ich mich später. Es sei denn, du möchtest Lucianos Vorschlag nachkommen?“ Seine Stimme klang fest, doch die Hand mit der Passage zitterte leicht.
„Nein, ich habe nicht vor, seinen Vorschlag anzunehmen.“
Mit wenigen Schritten war Napoleone bei mir und schloss mich in seine Arme. „Ich hatte gehofft, dass du das sagst.“ Seine Lippen streiften mein Haar und er ließ mich los.
Ich zwang ein Lächeln auf mein Gesicht, obwohl ich innerlich nach mehr als dieser flüchtigen Umarmung lechzte. Aber wie würde er auf einen Annäherungsversuch meinerseits reagieren? Seine Position hatte er am Abend vorher mehr als deutlich gemacht.
„Ein Ausflug hast du gesagt? Wohin?“, wechselte ich das Thema. Das würde uns zumindest von dieser Familie wegbringen.
„Bist du gut zu Fuß?“ Er wartet meine Antwort nicht ab. „Ich dachte, wir könnten zu einem der alten Genuesertürme laufen. Von dort hat man einen wundervollen Ausblick auf die Sanguinaires – die Blutfelsen.“
„Das klingt makaber.“
„Ist es nicht. Warte, bis du sie siehst.“ Napoleone drehte sich zur Tür. „Komm. Ich werde ein paar Sachen einpacken und du kannst dich so lange in der Bibliothek umsehen.“
Er führte mich in den Raum, in dem ich tags zuvor auf ihn gewartet hatte und ging in Richtung Küche davon. Ich trat ein und wollte mich gerade den Büchern zuwenden, als ich hinter mir die Tür hörte. Neugierig drehte ich mich um und sah mich Letitia Buonaparte gegenüber.
Ihr strenger Blick musterte mich von oben bis unten und sie sagte in einem Tonfall, der die Sonne gefrieren lassen würde: „Gut. Da seid Ihr ja!“
'Gut' fand ich das nicht.
„Ihr kommt aus einer Stadt weit weg“, begann sie das Gespräch. Ohne Einleitung.
„Ja“, beeilte ich mich, zu antworten, „ich arbeite dort als ...“
„Ich weiß. Das hat er mir erzählt. Anderer Kinder Leute erziehen!“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf. „Was ist mit eigenen Kindern? Jung seid Ihr ja nicht mehr. Hat Eure Familie Euch nicht verheiratet? Oder gibt es Gründe, die das verhindert haben?“
Meine Wangen brannten. Diese Frau hatte Haare auf den Zähnen. Nur nicht auf ihre Angriffe eingehen.
„Ich unterrichte die Kinder. Ich bin mehr eine Hauslehrerin. Mit der Erziehung habe ich nicht viel zu tun. Und da ich nicht verheiratet bin ...“
„Was machen Eure Eltern?“, unterbrach sie mich. „Liegt es an der fehlenden Mitgift, dass Ihr Euch Euren Lebensunterhalt auf diese Weise verdienen müsst?“
Das ging jetzt eindeutig zu weit! Was bildete sich diese Frau eigentlich ein? Darauf würde ich nicht antworten! Immerhin war jetzt geklärt, woher Napoleone diesen Hang hatte, ständig Fragen zu stellen.
Als ich eine Antwort schuldig blieb, schnaubte sie ein „Aha!“, und dieses Thema schien für sie erledigt. Entlassen war ich allerdings nicht.
„Dann habt Ihr sicher viel gelesen. Napoleone (was auch bei ihr wie 'Nabulione' klang) verkriecht sich tagelang hinter seinen Büchern.“ Ihre Blicke durchbohrten mich.
Nach einem Räuspern sagte ich: „Ich kann seinen Drang immer Neues wissen zu wollen verstehen. Ich lese auch zwei oder drei Bücher gleichzeitig.“
„Könnt Ihr etwas Nützliches? Wisst ihr, wie man einen Haushalt führt?“
Nervös knetete ich, meine Hände. „Ich könnte es lernen.“ Reiß dich zusammen, Marie! Sicherlich könntest du einen Haushalt führen!
„Das bringt mich zum Punkt: Was wollt Ihr von meinem Sohn?“
„Ihn lieben.“ Die Worte kamen, ohne nachzudenken. Etwas, was mir die ganze Welt vermiesen wollte.
Ihre Antwort war frostiges Schweigen. Als ich nichts sagte und nicht aufblickte, erklang erneut ihre kühle Stimme. „Ich bin nicht blind. Ich sehe, dass er glücklich ist. Ich weiß nicht, ob ich Napoleone jemals soviel habe lachen hören wie gestern. Nur,“ sie schloss für einen kurzen Moment die Augen, „ich habe das Gefühl, dass das alles nicht von Dauer ist. Nach dem, was