Seine abschließenden Worte trafen den Kern seines Monologes: „Phantasie regiert die Welt und Kanonen verwirklichen diese Phantasie.“ So positiv konnte man also Kanonen sehen.
Paoletta kam aus dem Haus gelaufen und rettete mich vor einer Antwort. Sie lächelte verschmitzt. „Napoleone, ich soll DICH zum essen holen.“
Seine Augen verengten sich. „WIR kommen!“
„Von ihr hat Mama nichts gesagt.“
Mit einem Ruck erhob sich Napoleone. Wortlos nahm er meine Hand und führte mich um das Haus herum. Hier sah es ähnlich aus wie vorne. Einige große Bäume und zu meiner Linken ein kleines Gemüsebeet.
Ein großer, gedeckter Tisch lud zum Verweilen im Schatten ein. Napoleones Blick flog über die Tafel und seine Augen verdunkelten sich. „Du wartest hier!“, presste er hervor und betrat das Haus.
Die Tür hatte sich hinter ihm geschlossen und laute Stimmen drangen durch die offenen Fenster nach draußen. Das mussten Napoleone und seine Mutter sein, die da stritten. Schade, dass sie Korsisch sprachen. Signora Buonapartes Stimme wurde leiser und verstummte schließlich völlig. Napoleone bellte einige Anweisungen und seine Mutter betrat kurz darauf mit einem weiteren Gedeck in den Händen den Garten. Ihren kalten Blick auf die Tafel gerichtet, arrangierte sie alles neu.
Napoleone trat wieder ins Freie, reichte mir ohne ein Wort seinen Arm und führte mich zum Kopfende des Tisches. Seine schönen Augen sprühten Funken. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen setzte er sich und wies mir den Platz zu seiner Rechten zu.
Der Platz der Hausherrin. Der hätte seiner Mutter gebührt. Mir schwirrte der Kopf. Ihm schien es wirklich ernst zu sein mit seinen Heiratsabsichten. Das passte zu dem, was ich über den jungen Napoléon wusste: Impulsiv und bereit, seinem Herzen zu folgen – wenn es ihm eine Ehe und Kinder einbringen würde. Und da lag das Problem. Ihm musste klar sein, dass er das von mir nicht bekommen würde. Ich hatte ihm deutlich gesagt, dass ich nicht bleiben könnte.
Ein hysterisches Lachen stieg meine Kehle hinauf: Was dachte ich da? Als ob das hier alles wirklich passieren würde und nicht nur ein Traum wäre! Aber, meldete sich ein leise Stimme: Wenn das so war, wer sagte mir, dass der Traum nicht morgen an der Stelle weitergehen würde an der er heute aufgehört hatte? Dieser Gedanke ließ mich erneut innehalten. Seit wann war man sich in Träumen bewusst, dass man träumte?
„Marie?“ Napoleone berührte sanft meinen Arm. „Darf ich dir den Rest meiner Familie vorstellen?“
Geisteabwesend nickte ich, achtete aber nicht wirklich auf seine Worte. Was ging hier vor? Was wollte mir mein Unterbewusstsein mit diesen Träumen sagen?
Napleones Hand berührte kurz unter dem Tisch meinen Oberschenkel und tausend Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch. „Hörst du mir zu?“, flüsterte er so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen.
Schuldbewusst lächelte ich ihn an.
Seine Mundwinkel wanderten nach oben und seine Augen glitzerten. „Ich hoffe doch, dass es meine Frage ist, die dich ablenkt.“
„Auch. Ich bin ... das ist alles einfach überwältigend.“
„Ja, nicht wahr? Korsika nimmt einen gefangen und lässt nicht mehr los.“
„Nicht nur diese Insel.“
Sein glücklicher Seufzer freute mich und den Rest des Abends genoss ich einfach seine Gesellschaft. Er stellte mir die anwesenden Familienmitglieder vor. Da war sein achtjähriger Bruder Girolamo, der so heftig meine Ehre verteidigt hatte, der nur wenig ältere Luigi und seine beiden Schwestern Paola (oder Paoletta) und Annunziata. Außerdem gab es noch Joseph Fesch, den Stiefbruder seiner Mutter.
Napoleone unterhielt die Gesellschaft gerade mit dem Bericht über eine Schneeballschlacht, die er in der Schule organisierte und wie eine echte Schlacht geplant hatte, als ein hagerer junger Mann im Garten auftauchte. Seine dunklen Augen erfassten die Situation und blieben an mir hängen. Ohne den Blick abzuwenden, richtete er das Wort an Signora Buonaparte: „Entschuldigt meine Verspätung, Mama. Wichtige Geschäfte haben mich in der Stadt festgehalten.“ Er sprach Französisch, was mich stutzen ließ. Signora Buonaparte reagierte nicht auf seine Worte und starrte stur an ihm vorbei. Mit einem Schulterzucken entließ er mich aus seiner Musterung und wandte sich Napoleone zu. „Das ist die, über die alle reden? Du lässt sie hier am Tisch mit deiner Familie sitzen? Weißt du überhaupt ...“
„Genug!“, donnerte Napoleone. „Luciano, das ist Mademoiselle Seurant. Sie wird für die Zeit ihres Aufenthaltes unser Gast sein!“ Er hatte mit ruhiger Stimme gesprochen und strahlte eine Autorität aus, die keinen Widerspruch duldete. Luciano ballte die Hände zu Fäusten und blickte zu seiner Mutter, die leicht mit dem Kopf nickte. Ohne ein weiteres Wort stapfte er zu seinem Platz und begann, sich essen aufzutun.
Die Kinder tuscheln und grinsten, als ob ihnen diese Art Szene nicht fremd wäre. Das war also Luciano, der spätere Lucien. Der einzige von Napoleones Geschwistern, der nicht seinen Befehlen und Wünschen gehorchen würde. Sie würden im Streit auseinandergehen und sich nicht wieder versöhnen. Mit Sicherheit hatte er absichtlich Französisch gesprochen, damit ich ihn verstand. Die einigermaßen entspannte Stimmung war dahin.
Napoleone erzählte seine Geschichte zu Ende und löste die Tafel auf. Seine Mutter brachte die Kinder zu Bett, Fesch verabschiedete sich höflich und Luciano ging ohne ein weiteres Wort.
Unter einem herzlichen Willkommen stellte ich mir etwas anderes vor. Ich blickte zu Napoleone. Er lehnte sich entspannt in seinem Stuhl zurück und lächelte mich an. „Mama hat ein Zimmer für dich herrichten lassen und erwartet, dass ich dich jetzt dorthin bringe.“ Er grinste verlegen. „Ich habe es ihr versprochen.“
Meine Stimmung sank. Also wieder keine Zweisamkeit. Was machte dieser ganze Traum dann für einen Sinn? Napoleones Hand fuhr unter mein Kinn und hob meinen Kopf an. „Wenn es nach mir ginge“, flüsterte er heiser, „würdest du nicht alleine in diesem Zimmer übernachten.“ Er ließ die Hand sinken. Meine Haut kribbelte an der Stelle, an der seine Finger sie berührt hatten. Er stand auf und merkte auf halbem Weg zur Tür, dass ich ihm nicht folgte. „Kommst du?“
Zu meiner eigenen Überraschung trugen mich meine Beine und ich folgte ihm bis ins oberste Stockwerk des Hauses. Würde er mich jetzt küssen? Er hatte mich gefragt, ob ich seine Frau werden würde und diese Andeutung gemacht. Völlig in Gedanken vertieft, bemerkte ich nicht, dass er nicht mehr lief und prallte gegen ihn.
„Entschuldigung.“ Meine Kehle schien plötzlich trocken und der Flur sehr eng zu sein. Schwungvoll öffnete Napoleone die Tür und mein Blick fiel auf ein einfach eingerichtetes Schlafzimmer. Ein schmales Metallbett, ein Tisch, auf dem eine Waschschüssel stand, ein Stuhl und ein Nachttopf in der Ecke.
Napoleone schüttelte missbilligend den Kopf. „Wir haben schönere Zimmer als dieses. Aber so lange du nicht einwilligst, meine Frau zu werden, kann ich Mama gegenüber nicht mehr durchsetzen.“
Sollte das ein Druckmittel sein? Wollte er mich zu einer Antwort zwingen?
Er schien meine Gedanken zu ahnen, denn er sagte schnell: „Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Niemand will dich zu etwas zwingen, es ist ...“ Er fluchte und im nächsten Moment war er mir ganz nah. „Ich hätte gerne mehr von dir als diesen gestohlenen Kuss.“
Seine Zunge suchte sich sehnsüchtig ihren Weg. Ich öffnet die Lippen und hieß ihn willkommen. Seine Hände glitten meinen Rücken hinab und wieder hinauf. Ich presste mich enger an ihn. Das hatte ich ersehnt und es war besser, als ich es mir vorgestellt hatte. Er sollte nicht aufhören, er sollte ...
Mit einem tiefen Seufzer löste er sich von mir. „Wenn du mehr willst, musst du 'ja' sagen!“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ mich alleine im Zimmer zurück.
Mein Herz pochte