“Frag sie. Wir haben lange nicht darüber gesprochen.”
Oskar schaut über das Wasser und den Versuch des Freundes hinweg, ein Thema anzusprechen, das er im Grunde vermeiden möchte. Das eigene Haus...Seine Frau und er wohnen seit Jahren in einer Straße mit Einzelvillen. Es ist nett dort, aber gleichwohl einschläfernd. Die Idee, ein eigenes Haus zu bauen, zu besitzen, ist ebenfalls nett, aber er hatte von Anbeginn die Befürchtung, es könne ihn lebensgeschichtlich festeisen. Seine Gedanken werden paraphrasiert.
“Weißt du, Oss, ich fühle mich am wohlsten, wenn ich unterwegs bin.”
“Deshalb reist du also so viel?”
“Deshalb reise ich so viel, ja. Mein Job gestattet es mir gottseidank, das ist das Angenehme. ”
“Du kannst dich sozusagen frei bewegen?”
“Weitgehend. Man gibt mir gewisse Ziele vor, nicht aber den Weg, wie ich dahin komme.”
“Schön.”
“Und du, Oss?”
“Ich weiß nicht, ich tüftle so vor mich hin.”
“Ja, ja, Sklave deiner Arbeit, das bist du, nicht wahr. Findest kaum Zeit für andere Dinge, außer vielleicht, um einmal für vierzehn Tage an die See zu fahren.”
“Wenn du es sagst.”
“Ist es nicht so?”
“In etwa.”
Oskar bleibt stehen.Timo geht voraus. Für Augenblicke schweigen sie. Jeder tut etwas anderes. Der eine bohrt seine Kehrseite in den brütend warmen Sand, der andere stapft bis zu den Waden hinauf in die schläfrig rollende See. Der eine denkt an seine Frau und daran, was sie über den anderen denkt…
"Timo tr ä gt manchmal ein bisschen dick auf, ja, aber daf ü r nimmt er sich nicht so schrecklich ernst und gibt sich nicht so schrecklich erwachsen. Das gef ä llt mir an ihm."
"Zu unserem Sohn und auch zu mir sagst du oft: seid nicht so kindisch."
"Ist das jetzt ein Widerspruch?"
"Ich denke schon."
"Dann ist es ein sch ö ner Widerspruch.”
Oskar schwieg, als Constanze das sagte. Ihm gefiel es ja auch…
Allerdings, so stellt er jetzt, im Rücken des Freundes, abweichend für sich fest: dass dieser sich nicht so ernst nähme, stimmt nicht… In die Verlängerung dieses Gedankens stiehlt sich ein Lächeln.Timo hat sich eben umgedreht, grinst zu ihm herüber.
“Weißt du, wie du gerade guckst?”
“Wie denn?”
“Wie dein Vater.”
Oskar schließt den Mund. Wahrhaftig. Timo hat seinen Vater ja noch erlebt. So lange kennen sie einander also schon. Ach, länger... Obwohl, es gibt da eine Lücke von annähernd zwölf Jahren, eine Kontaktlücke, wo ihre Wege überseeisch weit auseinander lagen.
Oskar erhebt sich vom Erdboden, schüttelt sich den Sand aus den Kleidern. Sonderbar, diese Beobachtung des Freundes, wo er doch selber gerade in Gedanken... Ich bin auf Ferien, denkt er, ja, immer mal wieder, und zwar im Gestern. Warum nur? Die Kostüme der Vergangenheit sind heute wie schon zu anderen Zeiten tageweise schwer, die Schuhe spitz, die Hosen eng. Oskar denkt an das Bündel früher Liebesbriefe, die sich, neben den Tagebüchern, im väterlichen Gepäck angefunden haben. Sie gefielen ihm nicht. Die Handschrift des Vaters war üppig, raumgreifend, dekorverliebt. Nicht minder waren es seine Worte. Constanze würde hier sagen: theatralisch. In den Aufzeichnungen der Pariser Jahre dagegen dominierte dann ein veränderter, ein lakonischer Ton; die Sätze kamen kleiner daher, straffer; abgeschliffen - vermutlich von der Vanitas.
"Weiß man, wohin letztlich die Reise geht."
"Welche Reise?"
“Hast mir gar nicht zugehört, wie?”
In der Tat. Oskar war mit seinen Gedanken nicht anwesend. Seine Stimme klingt pelzig…
Untiefen. Stehende Wellen. Rücklaufende Brandung. Seine Blicke kreuzen die See. Der Blick des Vaters auf sich selbst war, wie Oskar es jetzt sieht, über Jahre hin nicht selten streng und hart, so als wäre es gar nicht der seine gewesen. Und der des Sohnes auf den Vater war es nicht minder. Letzteres kann korrigiert werden, was in mancher Hinsicht ja bereits geschehen ist. Und die Mutter? Es ist zu spät, mit der alten Dame ein solches Thema anzufassen... Der Wind frischt auf. Oskar schluckt, dreht sich zur Seite. Er will nicht, dass Timo ihn beobachtet.
“Erinnerst du dich, Os, früher wollten wir immer fliegen, in einem eigenen Eisenvogel abheben, über die Wolken. Heute ist es zum Pilot-Sein wohl ein bisschen zu spät.”
"Wir tun einfach so als ob."
“Bist du zufrieden mit dem, was aus dir geworden ist?”
"Nein. Bist du denn mit dir zufrieden?"
"Eigentlich schon. Was ich nicht bin, will ich auch nicht sein."
“Dachte ich es mir.”
“Und du, Oskar? Hast doch durchaus einiges vorzuweisen in deiner Vita. Solltest ruhig ein wenig stolz auf dich sein.”
“Ich tue auch das, wenn es gewünscht wird."
Oskar räuspert sich. Der Vater gedachte in seinen Aufzeichnungen auffallend oft seiner jüngeren und ganz jungen Lebensjahre. Oskar kann das kaum nachvollziehen. Für ihn ist die Beziehung zu seinem früheren Selbst längst abgerissen.Wenn er sich etwa auf Bildern von einst betrachtet, als Heranwachsender oder als Knabe, dann sieht er eine fremde Person. Sie berührt ihn nicht. Ihm ist seltsamerweise, während er das denkt, als höre er aus dem Off den warmen Bariton seines Vaters:
“Das, mein Junge, geht mir nicht so.”
Schwermütige, teilweise dem Sinnleeren nahe Eintrübungen des Gemüts, die das Erwachsenwerden mit der Regelmäßigkeit einer allmorgendlichen Grußformel flankierten. Das gab es, und das haben, wie Oskar inzwischen festgestellt hat, der Senior und er gemeinsam. Andrerseits, im Unterschied dazu: Der Vater war Trinker. Der Sohn nicht.
Er war im engeren Sinne kein Alkoholiker, der Senior, mehr der Typ Quartalssäufer. Und er hatte, vermutet Oskar, das Trinken benutzt, um gewissen Zuständen zu entfliehen, und die Musik, um in andere einzutauchen. Ersteres dürfte Teil eines Wellengangs gewesen sein, der sein Selbst auf Dauer unterspülte. Er war wohl darinnen auf und nieder geschwankt, zuweilen abgetrieben, zuweilen hatte er, zwischen Sturmspitzen aus Betäubung und Erlösung, auch Sandbänke der Ruhe gefunden. Seine verpatzte Musiker-Laufbahn muss ihn lange wie ein gefälschter Fluch verfolgt haben, bis er eines Nachts sein wahres Talent entdeckte. Doch da war es zu spät. Oskar Junior schaut auf seine Armbanduhr und gähnt ausweichend. Es ist wie mit den giftigen Senfölen: Sie kommen im Senf gar nicht vor.
*
Mannigfach debiles Grau. Regenwände standen Spalier, Überzieher aus Nässe schmiegten sich eng an die Gliedmaßen der Stadt, die, sich über Oscar beugend, bei lauwarmem Pernod-Charme blasse Konturen zeigte. Die Straßen hatten sich in Laufgräben verwandelt, und in ihnen konzertierte ein Orchester aus Gusseisen, Stopfleber und Stein. In seinem Kopf hingegen brauste ein