Die Entleerung des Möglichen. Reinhold Zobel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhold Zobel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753181400
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aus und heftig, explodierte geradezu jenseits des schmalen Spalts, der sein Mund war. Dergleichen Eruptionen hätte Oscar ihm gar nicht zugeschrieben.

      Die Entladung galt Mohun. Dieser Mensch sei ja ein ausgemachter Schurke. Er, Laszlo Varga (er trat inzwischen wieder unter seinem wahren Namen auf), habe es von Anbeginn voraus gesehen. Ein Schurke, der nur sich selbst kenne und, wie nicht anders zu erwarten, über Leichen gehe. Er, Varga, ahne freilich, wohin all das, was man jetzt im und um das Rapzodie herum beobachten könne, am Ende führen müsse. Doch seine Meinung, das wisse er natürlich, sei in diesem Dunstkreis so unmaßgeblich wie unerwünscht.

       "Es gibt eben Leute, die werden nie nach dem Weg gefragt."

      “Was sagen Sie, Monsieur?

      “Oh, nichts. Verzeihen Sie, ich habe nur, ehm, laut gedacht.

      Oscar biss sich auf die Lippen. Sie bestellten etwas zu essen. Oscar wollte sein Gegenüber einladen, doch lehnte der das Angebot verlegenheitsfrei dankend ab. Oscar nahm diese Ablehnung verlegenheitsfrei entgegen.

      Er ging sonst, außer mit Mohun, selten mit anderen auswärts essen. Mohuns bevorzugtes Lokal lag übrigens nur ein paar Häuserzeilen weiter. Gelegentlich begaben sie sich noch spät, manchmal weit nach Mitternacht, dorthin. Die Küche hatte dann bereits geschlossen. Für Mohun und sein Gefolge wurde sie wieder geöffnet. Mohun aß spartanisch. Er war ein guter Weinkenner, er verstand etwas von gutem Essen, doch er machte sich offenbar nicht viel daraus. Außerdem aß er ja kein Fleisch. Er bestellte meistens Teiggerichte, nach Art des Hauses. Nur hier, bei Philippe, dem Koch seines Vertrauens, der zugleich der Eigentümer des Restaurants war, ließ er die Speisen direkt zu sich auf den Teller gelangen, in allen anderen Fällen musste einer seiner dienstbaren, bewaffneten Geister den Vorkoster machen…

       "Hier, nimm das! Rasch!”

      Es war ein Montag gewesen wie dieser. Oscar hatte, bereits angeheitert, während des Hauptgangs mit dem Messer unglücklich einen seiner beschäftigungslosen Finger angesägt. Blut trat aus. Mohun sprang, als er dessen gewahr wurde, von seinem Sitz auf. Und mit einer Geste unerwarteter Fürsorge und Besorgnis reichte er Oscar eine Serviette. Seine Stimme bebte gar, als er ihm riet, die Wunde umgehend zu versorgen.

      Oscar verstand die Aufregung damals nicht. Er verstand sie erst jetzt, nachdem er zur Kenntnis genommen hatte, was Varga während ihres Zusammenseins im Chez Ginot, zwischen Vorsuppe und Dessert, in keiner Randnotiz, sondern in Folge eines Beitrags, der Oscar überraschende Einblicke in Mohuns Lebensgeschichte gewährte, detailkundig vor ihm ausbreitete.

       " Sein Vater f ü hrte, wie ich schon einmal erwähnte, eine Kneipe nahe der belgischen Grenze. Eines Tages, so heißt es, hatte er das Pech, dass randalierende G ä ste sein komplettes Inventar zerschlugen. Er selber erlitt, als er einzugreifen versuchte, schwere Verletzungen und behielt von dem Vorfall einen steifen Arm zur ü ck. Auch sein Sohn wurde verletzt. Es war wohl nicht gravierend, doch in seinem Fall h ä tte es t ö dlich enden k ö nnen."

      “Tödlich? Weshalb?"

       "Wussten Sie das nicht? Monsieur Freyer ist h ä mophil... Er selber w ü rde wahrscheinlich sagen, er habe die Krankheit der K ö nige. "

       "Ich wundere mich sehr, ehm, ü ber ihre Kenntnisse."

       "Es schadet nicht, ü ber Leute, die einem befehlen wollen, gut informiert zu sein."

       "Da m ö gen Sie recht haben.”

      Oscar schaute, weitere Erinnerungen aktivierend, über die Tische hinweg. Wie bei Philippe stand auch hier im Seitenschiff des Bistros unweit des Eingangs eine Musikbox.

       "Was ist das f ü r ein lausiges Programm, Philippe, das da in deinem Klimperkasten läuft !"

       "Et alors? Es ist die aktuelle Hitliste. Alle Musikboxen spielen sie."

       "Dann treib eine andere auf, eine mit amerikanischen Titeln!”

      Mohun hatte die Musikbox ins Visier genommen, warf aber keine Münze ein. Es gab ausschließlich französische Titel. Keiner davon war nach seinem Geschmack. Seine letzten Worte flogen in einer Lautstärke durch den Raum, dass jeder sie hören konnte, ein von ihm entrolltes Bündel Banknoten folgte im Blindflug, landete aber zielsicher hinter dem Tresen des Besitzers, der dort Gläser putzte. Anschließend wandte Mohun sich wieder Oscar zu.

      “Wo ist eigentlich Saloua? Wolltest du sie nicht zu ihrer Gesanglehrerin begleiten?

      “Sie hat sich bei mir nicht gemeldet.

      “Hat sie nicht?

      “Nein. Vielleicht hatte sie keine Lust auf den Unterricht.

      “Keine Lust? Ich werde ihr schon Lust machen. Schließlich bezahle ich den ganzen Unfug.

      “Oder sie führt ihren schönen Körper spazieren und singt, ehm, im Freien.

      “Spar dir deine Witze, Oscar. Du bist jedenfalls ein verdammt schlechter Aufpasser…

      Saloua. Vorgestern. Gestern. Heute. Oscar hatte sie seit Tagen nicht gesehen. Sie tauchte mitunter ab. Einfach so. Eine Frage verstopfte den ohnehin trägen Fluss seiner Gedanken: Was wusste Varga über Saloua? Vielleicht, überlegte er, wusste der Mann ja auch in diesem Fall mehr als er, und er stellte also diese Frage, wenngleich etwas indirekter als im Vorsatz.

      “Sie wollen hören, wie ich über Ferenczys Tochter denke?

      “Sie kennen sie länger als ich.

      “Das stimmt... Seit sie Monsieur Freyer nachläuft, hat sie sich verändert.”

      “In welcher Hinsicht?

      “Sie war vorher naiv und unbekümmert. Jetzt ist sie eine Ganovenbraut.

      “Sie meinen...

      “Ich meine, sie ist hart geworden, hart und berechnend.

      Oscar bereute schon, gefragt zu haben. An moralischen Urteilen war ihm nicht gelegen. Aber dann kam doch noch etwas, was ihn aufhorchen ließ.

       "Wussten Sie ü brigens, dass sie stiehlt?"

      “Wie, sie stiehlt?"

      “Nun, sie ist eine kleine, gemeine Diebin. Sie klaut in Warenhäusern, Boutiquen und anderswo. Es mögen unbedeutende Dinge sein. Und sie bräuchte sie vermutlich gar nicht, schließlich ist Monsieur Freyer ihr gegenüber sehr großgig, erfüllt ihr, wie es heißt, fast jeden Wunsch, dennoch tut sie es.

       "Daf ü r muss es doch besondere Gr ü nde geben?"

      “Ich schätze, es geschieht aus Lebensgier. Einmal wurde sie erwischt und in Haft genommen. Monsieur hat sie rasch wieder in Freiheit bringen und es offenbar geschickt abwenden können, dass Anklage erhoben wurde.”

      Oscar rutschte unruhig auf seinem Sitzholz herum. Das Wort Anklage hallte in ihm nach. Seine Gedanken galoppierten davon, irrten ab. Die Zeit rutschte lässig