Nachdem er den ganzen Nachmittag in der Waffenkammer verbracht und mit Henrik Schrittfolgen und Ausfalltechniken geübt hatte, war Tristan erschöpft. Trotzdem wurde er zum Abendessen im Speisesaal erwartet und er musste dringend ein Bad nehmen. Er saß auf der Fensterbank und starrte hinaus, während er darauf wartete, dass Henrik das Badewasser vorbereitete. Der Regen fiel immer stärker und prasselte gegen die Scheiben. Morgen war sein einundzwanzigster Geburtstag, dann würde er sich offiziell in die Liste der Prüflinge eintragen können. Jetzt kam es vor allem darauf an, die Mitglieder der Garde für sich zu gewinnen. Sein Atem kondensierte an der Scheibe. Nachts war es draußen noch empfindlich kalt. Mit dem Finger zeichnete er Kreise auf das Glas. Wenn die Zeit stehen bliebe, würde er nicht älter werden und sich nicht in diese Liste eintragen können. Dann hätten sich alle seine Probleme erledigt, er wäre seine Sorgen los und könnte tun, was immer er wollte. „Das Bad ist fertig, Herr.“ Henrik hatte lautlos den Raum betreten, eine Flasche Badeöl und ein Stück Seife in der Hand. Tristan wandte sich um. „Du?“ Der Knecht sah ihn an. Seine Augen waren gerötet und er wirkte müde. „Wenn du tun könntest was du wolltest, was wäre das?“ Henrik sah ihn überrascht an und blinzelte irritiert. „Wie meint Ihr das, Herr?“ Tristan bereute schon, die Frage gestellt zu haben. Er versuchte, die Sache mit einem Schulterzucken abzutun. „Na, wenn du alles tun könntest was du wolltest, was würdest du machen?“ Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Knechts. „Wenn ich ganz ehrlich bin, ich würde meine Harfe nehmen und durch die Welt wandern und singen. Ein Barde sein. Aber meine Verpflichtungen binden mich. Wer kann schon machen was er möchte?“ „Du würdest ein Barde sein wollen? Von allen Dingen in der Welt?“ Henrik wirkte verlegen und wandte sich ab. „Ungebunden sein und durch die Welt ziehen, da bleiben wo es einem gefällt. Ja, das würde ich gerne tun.“ Tristan hätte nie geglaubt, dass er und Henrik, der einige Jahre älter war und kaum ein Wort sprach, soviel gemeinsam haben könnten. Zum ersten Mal war er froh, dass sein Vater darauf bestanden hatte, dass Henrik ihn begleitete. Mit einmal fühlte er sich nicht mehr so allein. Er räusperte sich. „Ich wusste gar nicht, dass du Harfe spielen kannst.“ „Oh, nicht besonders gut. Mein Vater hat es mir beigebracht.“ Irgendwas im Tonfall des Knechtes war merkwürdig, scharf und herausfordernd. Oder kam es Tristan nur so vor, weil er müde und übellaunig war? Henrik griff nach einigen Badetüchern und ging so schnell hinaus, dass es Tristan unmöglich war, nachzuhaken. Er stand auf und streckte sich. Sein Rücken schmerzte und alle Knochen taten ihm weh. Er würde lieber ins Bett gehen und schlafen. Stattdessen nahm er ein Bad, zog sich an und ging hinunter in den Speisesaal.
Gwynevra saß neben ihrem Vater am Kopfende des langen Tisches und beobachtete gespannt das Kommen und Gehen. Tristan war spät dran, normalerweise kam er wesentlich früher zum Essen herunter. Es fiel ihr nicht schwer, ihre Mahlzeit hinauszuzögern. Sie war zum Essen viel zu aufgeregt. Mit der Gabel schob sie die Erbsen auf ihrem Teller hin und her. Vielleicht würde er in ihrer Nähe Platz nehmen! Sie könnten plaudern und sich endlich näher kennen lernen. Sie hatte das Gefühl, Schmetterlinge im Bauch zu haben. Eine ganze Garnison Schmetterlinge. Ach nein, das fühlte sich schon eher nach einem Schwarm Drachen an. Sie konnte ihr Glück gar nicht fassen. Er hätte wissen müssen, dass sie da sein würde. Der Abend war schon schlimm genug. Er war jetzt wirklich nicht in der Lage mit einem verwöhnten Kind Konversation zu machen. Wie alt konnte sie schon sein, siebzehn oder achtzehn, höchstens! Und so was von Nerv tötend. Irgendwie gelang es ihm, allen lächelnd einen Guten Abend zu wünschen, als er am Tisch Platz nahm. Er langte kräftig zu und versuchte so schnell wie möglich zu essen, ohne einen gehetzten Eindruck zu machen. Gwynevra starrte zu ihm rüber. Er senkte den Blick auf den Teller und versuchte, ihre Augenaufschläge und das Wimperngeflatter zu ignorieren. Sie versuchte verzweifelt, Augenkontakt zu ihm aufzunehmen. Er wirkte total verkrampft, vermutlich war er immer noch so schüchtern. Dabei hatte er heute Morgen einen ganz anderen Eindruck gemacht. Sie klappte den neuen Seidenfächer auf, den ihr Vater aus Salzbach mitgebracht hatte, und fächelte sich Luft zu. Dabei versuchte sie, so graziös wie möglich zu wirken. Aber er sah ja nicht mal her! Schließlich fächelte sie hektischer. Sie wurde aus ihm einfach nicht schlau.
Anna saß am Tisch in der Ecke, der den adligen Kammerzofen zugeteilt war. Obwohl sie alle aus herzoglichen Familien stammten wie der Großherzog und seine Günstlinge, war es ihnen nicht erlaubt, mit ihnen am selben Tisch zu sitzen. Der Großherzog nannte es Lehrjahr. Beim großen Frühlingsball im nächsten Jahr würden sie dann debütieren. Für die meisten Mädchen ging es schon jetzt um nichts anderes. Anna konnte gut darauf verzichten. Für sie war diese strikte Trennung ungerecht, weiter nichts. Sie schenkte sich noch Wein nach. Anna hatte noch zehn Monate als Kammerzofe vor sich. Zehn weitere Monate mit Gwynevra. Und danach wäre sie selbst Gast am Tisch des Großherzoges und damit Freundin seiner Tochter. Diese Aussicht besserte ihre Laune nicht. Auf die sogenannte bessere Gesellschaft wollte sie liebend gern verzichten. Wütend starrte sie zu ihr hinüber. Die Arbeit und alles wäre erträglich, wenn sie ihr nicht das Leben so schwermachen würde. Und wie sie diesen Lackaffen von heute Morgen anhimmelte! Ein Traumpaar, die beiden. Sie war immer noch sauer, dass der Rüpel sie einfach umgerannt hatte und ihr dann auch noch Beleidigungen an den Kopf warf. Anna stieß Beata an und deutete auf Gwynevra. Dann imitierte sie deren hektisches Fächeln. Beata verschluckte sich vor Lachen und musste husten. Tristan beobachtete die beiden und konnte sein Grinsen nur mit Mühe verbergen. Anscheinend war er nicht der einzige, der Gwynevra‘s Gebaren lächerlich fand. Zum Glück bekam sie von dem ganzen nichts mit.
4.
Brin hatte den Abend in der Gesellschaft seines Vaters alles andere als genossen. Schließlich, als sein Vater schon so volltrunken war, dass er kaum noch die Augen offen halten konnte, legte er die paar Taler, die er bei Herrmann verdient hatte, auf den Tisch und machte, dass er weg kam. Er war wütend, jetzt hatten sie wieder kein Geld, um morgen etwas zu essen zu kaufen. Noch einmal auf den Markt traute er sich nicht. Sollte sein Vater ruhig am Alkohol verrecken, wenn er denn wollte, aber er sollte die Familie endlich in Ruhe lassen. Brin hastete durch die Nacht. Doch scheinbar hatte sein Quälgeist beschlossen, ihm zu folgen. Laut lallend torkelte er hinter ihm her und Brin musste schließlich kehrt machen und neben ihm herlaufen. Dann war er wenigstens ruhig. Eine Weile gingen sie so nebeneinander her und Brin‘s Vater redete auf ihn ein, als wären sie alte Freunde. Sein Arm lag über Brin‘s Schulter und die Hälfte des Weges musste er ihn stützen, während ihm ununterbrochen ins Ohr gegrölt wurde. Nicht, dass er viel verstanden hätte bei der undeutlichen Sprache, aber Vaters Tonfall wenigstens war fröhlich. Als sie von der Rostgasse in die Kellerstraße einbogen, die nur noch zwei Querstraßen von ihrem Haus entfernt war, blieb Brin wie angewurzelt stehen. In der Dunkelheit der schmalen Kellerstraße konnte er zwei Schemen ausmachen, von denen einer plötzlich mit einem erstickten Schmerzenslaut zusammenklappte und zu Boden fiel. Die zweite Gestalt wandte sich um, rannte davon und wurde von der Dunkelheit geschluckt. Überfälle waren nichts Neues und Brin wusste, dass es besser wäre, Abstand zu wahren und abzuwarten. Die wichtigste Lektion in diesem Stadtteil hieß: Misch dich nicht ein! Der Übeltäter war aber nicht mehr zu sehen und vielleicht brauchte der Mann am Boden Hilfe? Er rührte sich nicht mehr. Wieder besserer Vernunft ging Brin näher und beugte sich über den leblosen Körper. Sein Vater kam an getaumelt und hob etwas vom Boden auf. Brin streckte die Hand nach dem Mann am Boden aus. Er dachte, dass der Mann tot war, doch plötzlich schoss dessen Hand vor und klammerte sich mit verzweifelter Kraft an Brin‘s Kragen. „Die Rolle!“ keuchte der Mann. Blut lief ihm über die Lippen. Er hustete schwach. Feine Blutspritzer trafen Brin‘s Hemd. „Er wollte die Schriftrolle!“ Dann brach sein Blick und der Griff erschlaffte. Brin trat erschrocken zurück. Er konnte sehen, dass der Mann nicht mehr atmete. Dann sah er das Blut an seinen Fingern glänzen. Er wusste nicht wie lange er bei dem toten Mann am Boden gekniet hatte. Er hatte auch nicht mitbekommen, wie die Soldaten gekommen waren und ihn und seinen Vater mitgenommen hatten. Er hockte auf schmutzigem Stroh in einer Zelle und zitterte vor Kälte. Sein Vater lag schnarchend auf einer schmalen Holzpritsche