Gwynevra beobachtete Anna eine Weile. Sie war wirklich hübsch und gar nicht mal dumm. Das braune Haar hatte sie zu einem unordentlichen Knoten im Nacken geschlungen. Ein paar unschöne Flecken verunzierten ihr Gewand. Wenn sie nur mehr Geduld aufbringen würde, sie hatte einfach keinen Blick fürs Wesentliche! Aus ihrem Haar ließ sich sicherlich mehr machen und ihre Haltung war beneidenswert. Aber ständig kam sie zu spät und ließ Meister Eiwar warten. Und sie hörte ja auch nicht auf sie, wo sie sich doch redlich bemühte, mit gutem Beispiel voranzugehen! Gwynevra konzentrierte sich wieder auf ihre Arbeit. Sie wollte heute ein Lob bekommen, schon die ganze Woche saß sie über dieser Abschrift des Propheten Gerolf und sie hatte nicht nur eine originalgetreue Kopie angefertigt, sondern den Text gleichsam ins Armanische übersetzt. Meister Eiwar würde überaus zufrieden sein. Die meisten anderen Mädchen verstanden die Sprache des alten Königreiches nicht, sie wussten gar nicht, was sie da wertvolles kopierten. Es war schon einige Zeit vergangen, als es an der Tür zum Lesesaal klopfte und ein kleiner, schmächtiger Mann mit Halbglatze eintrat. Er trug die einfache Garderobe eines Händlers. Neugieriges Getuschel wurde ringsum laut. Was der hier wohl verloren hatte? Unter dem Arm hatte er ein Kästchen und über der Schulter trug er einen Beutel. Meister Eiwar stand auf. „Peter Eschweiler, seid gegrüßt. Was führt euch zu mir?“ Er reichte dem schmuddeligen kleinen Händler die Hand. Der Mann kam Gwynevra wie ein Tölpel vor, als er sich linkisch vorbeugte und flüsternd mit Meister Eiwar ein paar Worte wechselte. Er sah nicht aus, als ob er überhaupt lesen könnte, was wollte er in einer Bibliothek? Der alte Bibliothekar stand auf und führte den Händler in einen Nebenraum, von dem Gwynevra wusste, dass es Meister Eiwars privates Studierzimmer war. Dann nahm er wieder an seinem Schreibpult Platz und fuhr fort, als sei nichts gewesen.
Als die Schatten länger wurden, schickte Meister Eiwar die Mädchen hinaus und wandte sich seinem Gast im Studierzimmer zu. „Ich bin erstaunt, euch zu dieser Zeit hier zu sehen. Ihr wisst, dass ich ein vielbeschäftigter Mann bin.“ Er ließ sich in den Sessel am Kamin sinken. Trotz der warmen Frühlingstemperaturen brannte in seinen Zimmern immer ein Feuer, über das er nun einen Kessel mit Glühwein hängte. Der fahrende Händler ließ sich in dem gegenüberliegenden Sessel nieder. Stumm wartete er auf das immer gleiche Ritual. Der alte Bibliothekar ließ den Glühwein aufkochen, schenkte zwei tönerne Becher voll und reichte ihm einen. Das süße Zeug war viel zu heiß und er verbrannte sich fast die Finger. Schnell stellte er den Becher auf den Fußboden neben dem altersschwachen Sessel ab. Alles hier in dem Raum wirkte alt und verstaubt, wie der Bibliothekar selbst. Mit seiner gekrümmten Nase beschnüffelte er den Wein, bevor er den Becher mit kleinen Schlucken schnell zur Hälfte leerte. Warum erinnerte er ihn nur immer an einen Maulwurf? „Also, was führt euch so früh am Tag zu mir?“ Darauf hatte der kleine Mann nur gewartet. Er öffnete die Kiste, die er bis dahin auf den Knien balanciert hatte und reichte dem alten Mann eine poröse Pergamentrolle, die sorgsam in Wachspapier und Samtstoffen eingeschlagen war. Der Bibliothekar stürzte sich auf das Dokument wie ein Geier. Umständlich rückte er den Stuhl näher ans Feuer und drückte sich einen altmodischen Kneifer auf die Nase. „Ich glaube, dass ich endlich gefunden habe, wonach ihr mich habt suchen lassen, Herr. Deshalb bin ich gleich nach meiner Ankunft zu euch gekommen.“ Der Händler musste lange warten, bis er eine Antwort von dem Alten bekam. Dieser hatte sich hinter dem Pergament verkrochen, nur noch sein schütterer Schopf grauen Haars war zu sehen. „Ja, Ihr habt Recht, es ist das Dokument nach dem ich gesucht habe. Allerdings kann ich nicht sagen, ob es auch vollständig ist.“ Vorsichtig schlug er das Pergament wieder in die schützenden Hüllen. Dem Händler entging nicht, dass der Bibliothekar seine Aufregung kaum verhehlen konnte. Im Geiste rieb er sich die Hände. Das würde ein lohnendes Geschäft werden. „Es war sehr umständlich, das Dokument zu beschaffen, Herr.“ Nie würde er zugeben, dass er es auf dem Jahrmarkt einer kleinen Stadt im Norden der Provinz zufällig für ein paar Münzen erstanden hatte. Wenn er es sich recht überlegte, hatte der Mönch damals es regelrecht loswerden wollen. „Ihr sollt für eure Mühen angemessen entschädigt werden. Sobald ich das Dokument übersetzt habe, werde ich euch den üblichen Lohn und einen Bonus zahlen.“ Der Händler wagte sich noch einen Schritt vor. „Nun ja, eure Großzügigkeit in Ehren, Herr, aber ich hatte bereits einige Ausgaben. Vielleicht könntet ihr mir die gleich erstatten? Man weiß ja nie...“ Abwartend taxierte er das Gesicht seines Gegenübers. Der Alte seufzte und langte in eine der vielen Taschen seines weiten, speckigen Umhangs. Er zog einen dünnen Geldbeutel hervor. Er war wirklich ein Dummkopf. „Eure Ausgaben werde ich euch natürlich erstatten. Ich bin ein ehrlicher Mann. Und ein Büchernarr.“ Vor allem ein Narr, dachte der Händler und rieb sich die Hände. Alle ehrlichen Menschen waren Narren. „Also, wie hoch sind eure Auslagen?“ „Oh, der Mönch, dem ich das Dokument abpresste, verlangte von mir dreist zehn Goldtaler. Weniger wollte er auf gar keinen Fall akzeptieren. Da ich aber wusste wie dringend ihr nach diesem Dokument sucht, habe ich mir gedacht, dass euch das sicher nicht zu teuer wäre und schließlich angenommen.“ Stumm zählte der Bibliothekar fünf Goldtaler in die Hand des betrügerischen Händlers. Er glaubte nicht, dass der dumme Kerl wirklich erkannt hatte, von welchem Wert die Pergamentrolle war. Sein ganzes Leben hatte er nach einem Hinweis wie diesem gesucht. „Den Rest erhaltet ihr mit eurem Lohn. Kommt morgen Abend wieder. Und nun muss ich mich meinen Studien widmen. Ihr seid entlassen.“ Er machte eine wedelnde Handbewegung. Eigentlich verdiente der eingebildete Kerl es gar nicht anders als betrogen zu werden, dachte sich Peter Eschweiler und verließ das Studierzimmer. Auf dem Weg hinaus pfiff er fröhlich vor sich hin. Er wusste genau, wie er das Geld anlegen würde.
3.
Brin hatte sich doch noch ein paar Münzen verdient. Er beeilte sich zu Hause zu sein bevor es dunkel wurde. Im Südviertel war es nach Einbruch der Dunkelheit wenn möglich noch gefährlicher als sonst. Mit den Gedanken noch bei den Pferden beschleunigte er seine Schritte. Herrmann hatte heute einen schwarzen Hengst beschlagen und Brin hatte die Zügel halten dürfen. Das Tier war ganz ruhig geblieben und hatte seinen Kopf an seine Schulter gelegt. Er hatte den Hals des Hengstes gestreichelt und sich dem irrsinnigen Traum hingegeben, dass das wundervolle Tier ihm gehörte. Und für einen winzigen Augenblick hatte es ihm gehört. Im Geiste sah er sich auf dem Pferd zur Jagd reiten und an prunkvollen Turnieren teilnehmen. Viel zu schnell kam er zu Hause an und wurde aus seinen Phantasien gerissen. Er konnte seinen Vater schon toben hören, als er vor der geschlossenen Tür stand. Vermutlich war nicht genug Geld für einen Gang ins Wirtshaus da. Er zögerte. Wollte er sich wirklich dem Zorn seines Vaters aussetzen? Dann konnte er seine Mutter schluchzen hören. Unbändige Wut packte ihn. Er stand da, unfähig die Tür zu öffnen oder sich umzudrehen und zu gehen und Tränen schossen ihm in die Augen. Seine Kehle war wie zugeschnürt, am liebsten wäre er weggelaufen und hätte all das Elend hinter sich gelassen. Doch seine Hand tastete pflichtschuldig nach dem Riegel. Da ging die Tür auf.„Ah.“ Sein Vater stand vor ihm, die kleinen schwarzen Schweinsäugelein zu schmalen Schlitzen verengt. „Der Rumtreiber ist wieder da. Du bist jung und kräftig.“ Eine schmutzige Hand, welcher der mittlere und der Ringfinger fehlten, krallte sich erstaunlich fest in seine Schulter. „Jetzt füttere ich dich seit sechzehn Jahren durch. Aber was tust du, um deine Familie zu unterstützen? Treibst dich in den Gassen herum, du Halunke.“ Vom Alkohol war Vaters Gesicht aufgedunsen und seine Haut wirkte schwammig und fahl. Brin hatte den unwiderstehlichen Drang ihm zu beweisen, dass er seinen Teil beitrug, er wollte ihm unter die Nase reiben, dass er derjenige war, ohne den sie den letzten Winter nicht überlebt hätten. Er hatte das Gefühl, als ob die paar Münzen gleich ein Loch in seine Hosentasche brennen würden. Wütend zog er sie hervor und hielt sie seinem Vater unter die Nase. „Ich war arbeiten.“ Sofort veränderte sich die grimmige Miene seines Vaters. „Guter Junge. Komm mit und spendiere dem Herrn des Hauses einen Krug.“ Er legte den Arm um Brins Schultern und zog ihn mit sich. Als Brin sich umsah, fiel sein Blick auf seine Mutter, die im Türrahmen stand und ihnen nachsah. Am liebsten wäre er zu ihr gerannt, um den Kopf in ihrer Schürze zu vergraben und sich auszuheulen, so wie er es als kleines Kind immer getan hatte, wenn er unglücklich gewesen war. Sein Vater zog ihn mit sich zur nächsten Kneipe und begrüßte ein paar alte Bekannte. In der Spelunke war es dunkel, zugig und es roch nach schalem Bier, abgestanden Pfeifentabak und Schlimmerem. Brin wollte am liebsten auf dem Absatz kehrt machen, als er mit bloßen Füssen