Florence antwortete nicht, sie war damit beschäftigt, die Tür des Cafés dem heftigen Wind zum Trotz zu öffnen. Sie ließ allen anderen den Vortritt und fand sie dann vor der Kuchentheke wieder. Auch in dieser Hinsicht hatten die Dänen mehr zu bieten, als ihre deutschen Äquivalente.
„Sag ich´s nicht. Das ist Essensdesign. Ein Lebenskonzept.“
Inga griff zur Kuchenzange, angelte sich einen Dessertteller und platzierte ein Himbeertörtchen in die Mitte. Sie grinste vor Zufriedenheit von einem Ohr zum anderen. An einem runden Tisch in der Ecke zwischen zwei großen Fenstern mit bauschigen weißen Vorhängen fanden sich alle wieder zusammen.
„Sag´ ich´s nicht“, wiederholte Inga mit großer Geste und deutete auf ihre Umgebung. „Das könnte doch so wie es ist bei ‚Schöner Wohnen‘ einziehen. Und das hier ist eine Autobahnraststätte. Nicht etwa ein Möbelhaus.“
Sie lächelte mit Besitzerstolz in ihrer Miene, als wäre das alles ihr´s.
„Und der Kuchen ist ebenso wohlgelungen“, pflichtete Florence ihr bei. Sie hatte auch ein Törtchen, das aus drei Stockwerken bestand, mit drei Cremes, jede eine Schattierung dunkelroter als die andere, mit einem Ensemble aus einer hauchzarten Waffel und kunstvoll drapierten Johannisbeeren obenauf.
„Ja, man könnte gleich drei nehmen, so verlockend sind sie----“
Inga brach ab und glotzte tonlos auf Bernadettes Teller.
„Man hat drei genommen. Du hast aber einen guten Appetit!“
Bernadette glaubte eine Spur von Vorwurf aus Ingas Bemerkung herauszuhören und rechtfertigte sich sofort.
„Ich hab´ so´n Hunger. Und die sind doch einfach unwiderstehlich. Obwohl ich ja eigentlich abnehmen will in diesem Urlaub…“
Sie sah schuldbewusst an sich herunter und ihr Blick blieb auf der leichten Wölbung ihres Bauchansatzes hängen.
„Du willst was?“
Inga fragte geradezu inquisitorisch. Bernadette blickte noch schuldbewusster.
„Ja, ich hab´ fünf Kilo zugenommen in letzter Zeit. Das kann doch so nicht weitergehen. Und da dachte ich, der Urlaub ist eine gute Gelegenheit, ich bin raus aus dem Familienbetrieb und kann mir ein paar extra Mahlzeiten kochen. Kalorienarm.“
Letzteres kam mit ganz leiser, unsicherer Stimme.
„Und die willst du dann essen, während wir direkt neben dir unsere französischen Menüs schmausen?“
Inga sah sie mit gerunzelter Stirn fragend an und gab sich dann selbst die Antwort.
„Dänemark ist ein freies Land. Ich habe vor, mich der Völlerei zu ergeben. Schmachten tu ich schon im Alltag genug. Wo die Kinder weg sind, koche ich ja nicht mehr regelmäßig. Die Aussicht auf unsere Gelage hier hält mich seit Monaten aufrecht. Da wird keine Waage und keine Frauenfachzeitschrift was dran ändern.“
„Ja, an dir sieht man ja sowieso kein Grämmchen, aber ich habe eine richtige Plautze gekriegt. Ich will doch nicht zur Tonne mutieren. Ich fühl mich schon oft genug wie eine Matrone aus einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert, da muss ich ja nicht noch wie eine aussehen.“
„Völlig übertriebene Wahrnehmung. Dieser Schlankheitswahn verdirbt uns komplett die Lebensfreude. Ich finde überhaupt nicht, dass du zugenommen hast und ich würde es dir sonst wirklich sagen.“
Inga sah Bernadette treuherzig an und fing dann an zu lachen.
„Im Ernst, es ist doch völlig egal, wieviel du wiegst. Wieg´ dich einfach nicht mehr. Ich hab´ gar keine Waage.“
„Ja, aber ich merke doch auch so, dass der Bauch schwabbelt und die Hose kneift“, sagte Bernadette missmutig. „Ne Waage brauche ich da auch nicht für, das sagt mir der morgendliche Blick in den Spiegel. Und wenn ich mich so fett fühle, dann fühle ich mich nicht mehr begehrenswert. Und das ist einfach unschön.“
Bernadette sah so schlecht gelaunt auf ihre drei Törtchen, dass es Inga schon leidtat, so direkt gewesen zu sein.
„Hör mal, wenn der Kuchen eine komplette Mahlzeit ersetzt, dann macht das überhaupt nichts, habe ich mal irgendwo gelesen. Also, genieß jetzt deine Törtchen, die sehen doch entzückend aus.“
„Ja, solche Kreationen habe ich neulich in einer Designzeitschrift gesehen“, steuerte Florence eine wesentliche Information bei. „Die haben in New York einen Patisserie-Preis gekriegt.“
Florence stellte ihren Teller – mit nur einem Törtchen – an ihren Platz und ließ sich nieder.
„Ich kann das gut verstehen“, sprang sie Bernadette zur Seite. „Ich kann´s auch nicht haben, mich dick zu fühlen, ganz egal wie andere mich sehen. Wenn ich mich selbst dick fühle, muss ich was dagegen tun.“
„Und das, wo du ohne weiteres modeln gehen könntest bei deiner Größe. Von dem grazilen Rest will ich erst gar nicht reden, man muss diese Unverschämtheiten ja nicht noch bestärken“, lästerte Inga. „Ich könnte Anna mal ein Foto von dir schicken, dann engagiert sie dich als Model für die Frau um die fünfzig.“
Sie streckte Florence die Zunge heraus, um sie zu reizen. Florence hatte immer so eine unglaubliche Contenance, das forderte Inga regelmäßig dazu heraus, sie ein bisschen zu provozieren.
„Bin ich doch auch.“
Florence zuckte mit den Achseln.
„Habe ich aber noch nie drüber nachgedacht. Fünfzig. Das bin ich einfach irgendwann geworden vor zwei Jahren. Ging aber völlig an mir vorbei. Die große Krise hatte ich mit dreißig und das war ja völlig albern.“
Florence lächelte mit ironisch heruntergezogenen Mundwinkeln.
„Ja, mit dem Alter habe ich auch kein Problem. Nur mit den Pfunden. Danke, dass du mich wenigstens verstehst, Florence.“
Carolin schaute zu den beiden herüber und schüttelte den Kopf.
„Ihr habt Probleme. Das mit der Figur könnt ihr doch selbst beeinflussen, das ist doch überhaupt nicht schwierig. Aber das mit dem Alter ereignet sich einfach. Da kannst du machen, was du willst, es geht nicht mehr weg. Das schockiert mich total.“
Sie griff den Faden ihrer Unterhaltung mit Bernadette auf dem Weg nach Hamburg wieder auf. Vielleicht half es ja doch, darüber zu reden. Das hatte sie als durchaus erleichternd empfunden, nachdem sie zuerst versucht hatte, es zu verdrängen.
„Alter. Bäuche. Was haben wir eigentlich inzwischen für Themen drauf?“
Inga schüttelte den Kopf genau wie gerade Carolin.
„Ich kann´s gar nicht glauben. Haben wir uns nichts Wichtigeres mehr zu sagen, als über unsere Jahresringe zu jammern und unseren Bauchspeck zu bedauern?“
„Das ist auch wichtig. Das ist Psychohygiene und es tut mir gut, das loszuwerden. Zu Hause will es keiner hören.“
Bernadette stach mit ihrer formschön designten dänischen Kuchengabel in das letzte Törtchen vor sich, pfirsichfarbener Schaum auf einer vanillegelben Zwischendecke aus Biskuit, darunter eine pflaumenblaue glasierte Sahneschicht, die ein paar üppige Blaubeeren enthielt, angerichtet auf einer dunklen Schokoladenplatte, obenauf zur Krönung eine hauchdünne, ebenholzfarbene Schokoraspel.
„Konditor muss auch ein schöner Beruf sein.“
Dieser Stoßseufzer kam so sehnsuchtsvoll aus tiefstem Herzen, dass alle lachten. Carolin blickte in die Runde und dachte an Ingas Formulierung von vorhin. Alter und Bäuche, waren das jetzt ihre Hauptthemen? Selbst wenn sie sich ironisch davon distanzierten? Na, in ihrem Leben gab es momentan zumindest auch noch das Thema ‚Wie finde ich endlich einen Mann, der zu mir passt?‘. Aber das würde sie erst später wieder aufs Tapet bringen.
Sie brachen auf und fuhren in die dänische Dämmerung hinein. Es war schon fast dunkel, als sie das Fleckchen erreichten,