„Ach, das wird alles viel harmloser, als du jetzt denkst“, sagte Bernadette leichthin. „Du wachst eines Morgens auf, bist fünfzig und merkst, dass überhaupt nichts anders ist als sonst.“
„Hast du nie ein Alter gehabt, das dich in Panik versetzt hat? Nicht einmal, als du dreißig wurdest?“
Carolins Stimme hatte eine eindringliche Trompetenlautstärke.
„Nö. Dreißig fand ich gut, endlich wurde man wirklich ernst genommen. Man war angekommen im Reich der Erwachsenen. Man hatte eine Stimme, man verfügte über Erfahrung. Das fand ich super. Und mit fünfzig bist du doch noch nicht klapprig. Überleg mal, wie dieses Alter für unsere Eltern aussieht, die wirklich alt sind. Mit achtzig betrachtet, ist fünfzig ein Witz.“
„Ja, aber mit achtundvierzig betrachtet ist es der reine Horror.“
Carolins Stimme senkte sich zu einem Flüstern.
„Es mag ja sein, dass es tausend rationale Argumente gibt, die einem das Gegenteil einreden wollen. Aber ich finde es furchtbar. Grauenerregend. Unheimlich. Unkontrollierbar. Man wird älter und älter und hat das überhaupt nicht in der Hand.“
Ihre Flüsterstimme endete im tiefsten Bass. Carolin war aus dem Gleichgewicht. Das passierte ihr selten. Und auch Bernadette war das nicht von ihr gewohnt.
„Wenn du´s nicht wärst, würde ich jetzt sagen, findest du nicht, dass du dich ein bisschen anstellst? Da passiert nichts, rein gar nichts. Du bist einfach einen Tag älter, nicht gleich ein ganzes Jahrzehnt. So kenne ich dich überhaupt nicht. Dich bringt doch sonst eigentlich nichts aus dem Gleis. Du wirkst immer auf mich wie eine Valium, total beruhigend.“
„Danke“, sagte Carolin trocken. „Valium, das hört man gern. Wenn ich mit dir zusammen bin, schlafe ich immer sofort ein…“
Bernadette lachte.
„Ich meine nur, dass du so beruhigend auf mich wirkst. In deiner Gegenwart komme ich runter, das kann ich nicht von vielen Menschen sagen. Die meisten regen mich meistens auf, meine Kinder inbegriffen.“
Carolin schwieg erstaunt. Als beruhigend hatte sie sich noch nie empfunden. Es gab Tage, da fühlte sie sich so zerrissen zwischen mehreren Handlungsoptionen, dass sie kaum wusste, was sie wirklich wollte. Dann verbrachte sie gefühlte Stunden damit, die verschiedenen Möglichkeiten abzuwägen und sich für eine zu entscheiden, die sie meistens im Moment der Realisierung schon wieder als unbefriedigend empfand. In solchen Augenblicken wäre sie so gern aus ihrer Haut geschlüpft, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, auf andere eine ganz andere Wirkung zu haben. Allerdings hatte sie diese Probleme auch selten in Gesellschaft, sondern in der Regel, wenn sie allein war. Vielleicht hingen sie damit zusammen, dass sie nicht gern allein war. Sie hatte dann schnell das Gefühl, der Himmel könnte ihr auf den Kopf fallen, das Obelix-Syndrom, wie sie es ganz für sich allein nannte.
Sie schwiegen beide eine Weile, jede in ihre Gedanken versunken. Das Münsterland glitt langsam an ihnen vorbei, an diesem trüben Novembertag auch nicht idyllischer, als das Ruhrgebiet vorher. Caroline überlegte, wo sie sich eine Kaffeepause gönnen könnten, vielleicht an dieser Raststätte, die quer über die Autobahn gebaut war.
Bernadette ging in Gedanken zurück zu ihrer Familie und ihrer Besorgnis, ob sie tatsächlich für die Zeit ihrer Abwesenheit alle gut versorgt sein würden. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht schnell ihr Handy hervor zu kramen und anzurufen. So eine Gluckenmutter wollte sie überhaupt nicht sein, aber sie erwischte sich immer häufiger bei solchen Anwandlungen. Je mehr Kinder aus dem Haus gingen, umso mehr fragte sie sich, ob sie genügend für sie da gewesen war und ihnen wirklich alles mit auf den Weg gegeben hatte, was sie brauchten, um sich glücklich und erfolgreich durchs Leben zu schlagen. Plötzlich schmetterte Carolin neben ihr fröhlich:
„Wir wollten mal auf Großfahrt gehen bis an das End´ der Welt, das fanden wir romantisch schön mit Kochgeschirr und Zelt…“
Bernadette schaute zu ihrer alten Freundin herüber, deren blond gewellte Haare ihr über die Wange fielen, die frisch und rosig aussah von der Seite und eine ansteckend gute Laune verströmte. Sie beschloss, mit ihren Grübeleien aufzuhören und die Reise in den Norden zu genießen. Die Kinder hatten schließlich auch noch einen Vater und der hätte sich sowieso nur vielsagend an die Stirn getippt, wenn er sie bei ihrem Sinnieren ertappt hätte. Sie wühlte im Handschuhfach herum, bis sie eine dieser uralten Mundorgeln gefunden hatte, die ihre Mutter ihr einmal geschenkt hatte, als die Kinder klein waren, „…für die langen Autofahrten“, und da traten ihr vor Rührung bei diesem Rückblick die Tränen in die Augen. Dieser Abschied von ihrer Kindheit, der mit dem drohenden Abschied von ihrer Mutter einherging, machte sie weich wie Butter und bewegte sie so, dass ihr dauernd zum Heulen war. Nach einem stärkenden Kaffee und einem überteuerten, aber immerhin leckeren Streuselkuchen im Café der Raststätte übernahm sie das Steuer und lenkte das Auto eineinhalb Stunden später in eine enge Parklücke vor Ingas Altbauwohnung in Eimsbüttel. Carolin sprang aus dem Auto, reckte sich und lief zur Tür. Inga hatte sie schon von oben erspäht und öffnete, bevor sie klingeln konnte.
„Muchachas----“
Inga breitete die Arme aus. Hinter ihr kam Florence mit ihrem eleganten Giraffengang die Treppe herunter und drückte ihre Freundinnen an sich. Sie sahen sich so selten alle vier. Das musste mit einem angemessenen Begrüßungsritual gewürdigt werden.
„Kommt, meine Lieben, der Sekt steht kalt.“
Inga scheuchte alle ins Haus und die Treppe hoch.
„Warum packt man für eine Nacht nicht einen extra Beutel“, stöhnte Carolin und mühte sich mit ihrem Koffer die lange Altbautreppe hoch. „Zu blöd, zu unorganisiert, zu stoffelig…“
Ingas Wohnung lag im zweiten Stock - „…ein Glück, dass du nicht unterm Dach wohnst“, bemerkte Carolin anerkennend - und stand einladend offen. Die Wohnungstür gegenüber ebenfalls und eine lila gefärbte, vollbusige Mittsechzigerin staubte das Türschild ab.
„Guten Abend, Frau Trauerfein“, rief Inga in voller Lautstärke. „Mehr Besuch kriege ich heute nicht.“
Sie grinste Bernadette und Carolin zu, schob sie in den Flur und schloss die Tür.
„Die Alte ist die neugierigste Schrappnelle, die ich kenne. Ich wette, dass sie nachher noch klingelt, weil sie einen Kuchen backen will und vergessen hat, Eier zu kaufen. Das sagt sie dann natürlich nur so.“
„Vielleicht ist sie einfach nur einsam“, schlug Bernadette milde vor.
„Die ist so neugierig, dass es schon unter Nötigung fällt, wenn du mich fragst“, konstatierte Inga sarkastisch. „Sie will immer wissen, ob ein Mann bei mir zu Besuch ist. Wenn allerdings tatsächlich mal einer da ist, mache ich ihr nicht auf.“
Inga grinste wieder und ging ihren Freundinnen voraus in die Küche.
„Lasst euer Gepäck erstmal im Flur stehen, da stört es keinen. Nachher machen wir im Wohnzimmer die Betten, aber jetzt brauchen wir es da noch nicht.“
Sie steuerte zielstrebig den Kühlschrank an und nahm eine dunkelgrüne Flasche aus dem Eisfach. Das Etikett schwenkte sie einmal unter Bernadettes Nase herum.
„Blanquette de Limoux“, rief diese in einem Ton, der einem Kreischen so ähnlich war, wie es Bernadette bei ihrer zurückhaltenden Natur überhaupt möglich war.
„Hmm“, nickte Inga triumphierend. „Blanquette. Habe ich in einem neuen Weinladen hier um die Ecke entdeckt und bin sofort Stammkundin geworden.“
„Blanquette haben wir immer bei unseren Urlauben in Südfrankreich getrunken, als die Kinder noch klein waren. Wir sind ein paar Jahre zusammen in eine alte Mühle gefahren, das war unglaublich schön.“
Bernadette lächelte nach ihrer Erläuterung selig vor sich hin und verlor sich in Erinnerungen an heiße Sommer und Südwestfrankreich, sie und Jaime und nach und nach immer mehr Kinder und Inga mit zweien, anfangs mit ihrem damaligen Lover und