Bei Lydgate drang er auf die Erfüllung seines Versprechen ihn zu besuchen. »Ich kann Sie nicht loslassen, wissen Sie, weil ich Ihnen einige Käfer zu zeigen habe. Wir Sammler interessieren uns für jeden neuen Bekannten, und ruhen nicht eher, bis er Alles gesehen hat, was wir ihm zu zeigen haben.«
Aber bald zog es ihn nach dem Whisttisch, und er sagte händereibend: »Jetzt aber lassen Sie uns ernsthaft sein! Was, Sie spielen nicht? O, Sie sind noch zu jung und leichtfertig für eine derartige Beschäftigung.«
Lydgate dachte bei sich, dieser Geistliche, dessen Fähigkeiten Herrn Bulstrode so schmerzliche Gefühle erweckten, scheine eine angenehme Erholung in diesem gewiß nicht gelehrten Familienkreise zu finden. Er meinte sich das einigermaßen erklären zu können; die gute Laune, die freundlichen Gesichter von Alt und Jung und die Gelegenheit, sich die Zeit ohne alle geistige Anstrengung leidlich zu vertreiben, mochte das Haus wohl anziehend für Leute machen, welche keine besondere Verwendung für ihre Mußestunden hatten.
Alles sah hier blühend und heiter aus – mit einziger Ausnahme von Fräulein Morgan, welche finster, gelangweilt und resigniert schien und, wie Frau Vincy oft sagte, eine rechte Gouvernante war. Gleichwohl war Lydgate nicht gemeint, diesen Kreis öfter aufzusuchen. Bei solchen Besuchen ging doch immer die kostbare Zeit des Abends nutzlos verloren, und jetzt wollte er, nachdem er sich noch ein wenig mit Rosamunden unterhalten hatte, sich entschuldigen und fortgehen.
»Sie werden sich gewiß bei uns hier in Middlemarch nicht gefallen,« sagte sie, als die Whistspieler sich an die Spieltische gesetzt hatten. »Wir sind hier sehr langweilig und Sie sind ganz andere Gesellschaft gewöhnt.«
»Ich denke mir, alle Provinzialstädte sehen sich einander sehr ähnlich,« erwiderte Lydgate. »Aber ich habe bemerkt, daß man immer seine eigene Stadt für langweiliger hält, als jede andere. Ich bin entschlossen, Middlemarch zu nehmen, wie es ist, und werde sehr dankbar sein, wenn die Stadt es mit mir ebenso halten will. So viel steht fest, daß mir dieselbe schon jetzt einige Reize geboten hat, welche meine Erwartungen weit übertreffen.«
»Sie meinen die Fahrten nach Lowick und Tipton, die allerdings Jedem gefallen müssen,« entgegnete Rosamunde ganz anspruchslos.
»Nein, ich rede von Reizen, die mir viel näher sind.«
Rosamunde stand auf, nahm ihre Filetarbeit zur Hand und sagte dann: »Sind Sie ein Freund vom Tanzen? ich bin nicht ganz sicher, ob gescheite Leute überhaupt tanzen.«
»Ich würde gern mit Ihnen tanzen, wenn Sie es mir erlauben wollten«
»O,« sagte Rosamunde mit einem kleinen abwehrenden Lachen, »ich wollte Ihnen nur sagen, daß bei uns bisweilen getanzt wird, und möchte gern wissen, ob Sie es als eine Beleidigung ansehen würden, wenn wir Sie dazu einlüden.«
»Unter der von mir erwähnten Bedingung gewiß nicht«
Nach diesem kleinen Geplauder wollte Lydgate wirklich fortgehen; als er aber an den Whisttischen vorüber kam, reizte es ihn, Farebrother's meisterhaftes Spiel und sein Gesicht, dessen Ausdruck eine wunderbare Mischung von Verschlagenheit und Güte darbot, zu beobachten.
Um zehn Uhr wurde das Abendbrot gereicht – so war es Sitte in Middlemarch – und Punsch dazu getrunken, aber Farebrother trank nur ein Glas Wasser. Er gewann, aber es schien gar keine Aussicht dazu vorhanden zu sein, daß die Rubber je ein Ende nehmen würden, und Lydgate verabschiedete sich endlich.
Da es aber noch nicht elf Uhr war, machte er noch einen Gang in der frischen Abendluft in der Richtung von St. Botolph, Farebrother's Kirche, deren Turm sich in seinen massigen Formen dunkel von dem gestirnten Himmel abhob. Die Kirche war die älteste in Middlemarch, die Pfarrstelle jedoch war nur ein Vikariat und brachte jährlich kaum vierhundert Pfund ein.
Lydgate, der das gehört hatte, fragte sich jetzt, ob Farebrother wohl Wert auf das Geld lege, welches er im Kartenspiel gewinne, und dachte bei sich: »Er scheint ein sehr liebenswürdiger Mensch zu sein, aber Bulstrode mag doch seine guten Gründe haben.« Vieles mußte sich leichter für Lydgate gestalten, wenn es sich ergeben sollte, daß die Anschauungsweise des Herrn Bulstrode im Ganzen zu rechtfertigen sei. »Was geht mich sein Glaube an, wenn er damit einige gute Ideen verbindet? Man muß die menschlichen Köpfe nehmen, wie man sie findet.«
Das waren tatsächlich Lydgate's erste Gedanken, nachdem er das Vincy'sche Haus verlassen hatte, und das wird ihn, fürchte ich, vielen meiner Leserinnen kaum ihres Interesses würdig erscheinen lassen. An Rosamunde und ihre Musik dachte er erst in zweiter Linie und wiewohl er, nachdem er einmal an sie zu denken angefangen hatte, während des ganzen noch übrigen Teils seines Spaziergangs bei ihrem Bilde verweilte, regten ihn diese Vorstellungen doch nicht auf, und hatte er nicht die Empfindung, als ob ein neues bedeutsames Element in sein Leben eingetreten wäre.
Er konnte jetzt noch nicht heiraten, er wünschte sich erst in einigen Jahren zu verheiraten und deshalb kam es ihm nicht in den Sinn, sich in ein Mädchen zu verlieben, das zufällig seine Bewunderung erregt hatte. Er bewunderte Rosamunde ungemein, aber in die wahnsinnige Leidenschaft, von welcher er einst für Laure ergriffen gewesen war, glaubte er nicht leicht durch ein anderes Weib wieder versetzt werden zu können. Freilich würde es, wenn von Verlieben hätte überhaupt die Rede sein können, keinen geeigneteren Gegenstand dazu gegeben haben als dieses Fräulein Vincy, welches grade die Art von geistiger Verfassung hatte, die man sich bei einer Frau wünschen möchte – gewandt, fein, gelehrig, empfänglich für jede Vervollkommnung in allen zarten Bezügen des Lebens, und alles das in einer körperlichen Hülle, welche dieser Begabung einen so unwiderleglichen Ausdruck gab, daß es keines weitern Beweises bedurfte.
Lydgate war davon durchdrungen, daß, wenn er sich einmal verheiraten würde, seine Frau jenen weiblichen Zauber, jene spezifische Weiblichkeit haben müßte, welche auf einer Linie mit Blumen und Musik stehen, jene Schönheit, welche schon an und für sich tugendhaft ist, weil sie nur für reine und zarte Freuden geschaffen erscheint.
Da er sich aber in den nächsten fünf Jahren noch nicht zu verheiraten gedachte, so lag es ihm zunächst mehr am Herzen, sich Louis' neues Buch über Fieber anzusehen, welches ihn speziell interessierte, weil er Louis in Paris gekannt hatte, und bei vielen anatomischen Untersuchungen zugegen gewesen war, welche den Zweck gehabt hatten, die spezifischen Unterschiede zwischen Typhus und typhösem Fieber festzustellen. Er ging nach Hause und vertiefte sich bis spät in die Nacht hinein in pathologische Studien, zu denen er ein viel reicheres Erfahrungs-Material hinzubrachte, als es ihm jemals auf die komplizierten Fragen der Liebe und der Heirat anzuwenden notwendig erschienen war. Über diese Gegenstände hielt er sich durch Literatur und jene traditionelle Weisheit, welche wir in der leichten Unterhaltung des Tages überkommen, für hinreichend unterrichtet. Das Fieber dagegen war in seinem Entstehungsgrunde dunkel und nötigte ihn zu jener beglückenden Tätigkeit der Einbildungskraft, welche nicht ein rein willkürliches Spiel, sondern die Übung einer geschulten Geisteskraft ist, indem sie mit dem klarsten Blick für Wahrscheinlichkeiten und im strengsten Gehorsam gegen die Gesetze der Wissenschaft kombiniert und konstruiert und dabei die ganze Energie der Unparteilichkeit herausfordert, denn sie muß sich die Freiheit bewahren, ihre eigene Arbeit an die Probe zu stellen.
Viele werden als mit einer reichen Phantasie begabt gepriesen ob ihrer verschwenderischen Production an nichtssagenden Bildern und billigen Erzählungen, armseligen Erfindungen von Gesprächen auf fernen Planeten, oder Bildern von Lucifer, wie er als ein großer häßlicher Mann mit Fledermausflügeln, in einem phosphoreszierenden Glanze auf die Erde herabsteigt, um seine Untaten zu vollbringen, oder Übertreibungen einer ausgelassenen Laune, welche uns anmuten wie ein krankhafter Traum des Lebens.
Aber diese Eingebungen erschienen Lydgate gemein im Vergleich mit jener Tätigkeit der Einbildungskraft, welche uns die feinsten Agenzien enthüllt, die zwar durch keine mikroskopische Untersuchung nachzuweisen sind, deren Spur aber durch ein dichtes Dunkel hindurch auf langen Wegen, logischer Schlüsse zu verfolgen, uns jene innere Erleuchtung befähigt,