Middlemarch. George Eliot. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: George Eliot
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752988956
Скачать книгу
behaglich ergeht; aber begeistert, war er für jene Arbeit mühseliger Erfindung, welche das wahre Auge der Forschung ist, indem es seinem Gegenstande eine vorläufige Gestalt verleiht und unermüdlich daran arbeitet, dieselbe zu korrigieren.

      Sein Streben ging dahin, in das Dunkel jener kleinen inneren Prozesse, der Quellen menschlichen Elends und menschlicher Freude einzudringen, in jene unsichtbaren Gänge, welche die ersten Schlupfwinkel der Angst, des Wahnsinns und des Verbrechens sind, in die Schwankungen jenes zarten Gleichgewichts der Kräfte, welches über die Entwicklung einer heiteren oder finsteren Weltanschauung entscheidet.

      Als Lydgate endlich sein Buch bei Seite legte, seine Beine nach dem noch glimmenden Kaminfeuer hin ausstreckte und die Hände gefaltet in den Nacken legte in jener angenehmen, einer geistigen Aufregung folgenden Stimmung, wo unser Denken sich von der prüfenden Untersuchung eines bestimmten Gegenstandes in dem Allgemeingefühle seines Zusammenhangs mit unserem ganzen Sein erholt – durchdrang ihn ein erhebendes SelbstBewusstsein in der triumphierenden Freude über seine Studien und etwas wie Mitleid für jene weniger Glücklichen, welche seinem Berufe nicht angehörten.

      »Wenn ich mich nicht schon als Knabe entschlossen hätte, diesen Beruf zu ergreifen,« dachte er, »wäre ich vielleicht auch dahin gekommen, mein Brot mit der stupiden Arbeit eines Lasttiers zu verdienen und mit Scheuklappen vor den Augen durchs Leben zu gehen. Ich würde in keinem Berufe glücklich geworden sein, der nicht die höchste geistige Anstrengung von mir gefordert und mich doch in tätigem teilnehmendem Zusammenhang mit meinen Mitmenschen erhalten hätte. Es gibt keinen Beruf, der diesen beiden Forderungen so vollkommen entspräche, wie der ärztliche. Er allein gewährt die Möglichkeit, der reinen Wissenschaft, welche in die Fernen und in die Tiefen dringt, zu leben und zugleich den alten kranken Leuten des Kirchspiels hilfreich beizustehen. Für einen Geistlichen ist das schon schwieriger. Farebrother scheint eine ganz exzeptionelle Erscheinung zu sein.«

      Dieser letzte Gedanke brachte ihm die Vincy's und alle Bilder des Abends wieder vor die Seele. Sie beschäftigten ihn sehr angenehm, und als er endlich seinen Bettleuchter zur Hand nahm, umspielte seine Lippen jenes leise Lächeln, welches angenehme Erinnerungen gern zu begleiten pflegt. Er war eine feurige Natur, aber für jetzt konzentrierte sich all sein Feuer auf die Liebe zu seiner Arbeit und auf das ehrgeizige Streben, sich gleich andern Helden der Wissenschaft, die ihre Laufbahn auch nur mit einer obskuren Landpraxis begonnen hatten, als einen Wohltäter der Menschheit anerkannt zu sehen.

      Armer Lydgate! Oder soll ich sagen arme Rosamunde! Jeder von Beiden lebte in einer Welt, welche dem Andern ganz fremd war. Lydgate hatte keine Ahnung davon, daß er bereits ein Gegenstand eifrigen Nachdenkens für Rosamunde geworden war, welche weder irgendeine Veranlassung hatte, den Gedanken an ihre Verheiratung auf einen entfernten Zeitpunkt zu verschieben, noch wissenschaftliche Studien betrieb, welche sie von jener Gewohnheit des Grübelns über Blicke, Worte und Phrasen, wie sie in dem Leben der meisten jungen Mädchen eine so große Rolle spielt, hätten ablenken können.

      Nach seiner Meinung hatte er in Blick und Wort nicht mehr Verbindliches und keinen größeren Ausdruck der Bewunderung für sie an den Tag gelegt, als jeder Mann einem schönen Mädchen schuldig ist. Ja, es schien ihm sogar, daß er dem Genuss, welchen ihm ihre Musik bereitet, gar keine Worte geliehen habe; denn er hatte gefürchtet, sich einer verletzenden Ungeschicklichkeit schuldig zu machen, wenn er ihr sein Erstaunen über ihre ausgezeichneten Leistungen zu erkennen gäbe.

      Aber Rosamunde hatte alle seine Blicke und Worte sorgfältig in ihr Gedächtnis eingetragen und betrachtete dieselben als das Vorspiel zu einem Roman – ein Vorspiel, welches ihr um so bedeutsamer erscheinen mußte, je vertrauter sie sich bereits, im Voraus mit dem Verlauf dieses Romans gemacht hatte.

      In Rosamunden's Roman war es durchaus nicht erforderlich, sich viel mit dem innern Leben des Helden oder mit seinem ernsten Beruf in der Welt zu beschäftigen; natürlich hatte er ein Geschäft und war ein ebenso geschickter wie gut aussehender Mann; aber der eigentliche Reiz der Persönlichkeit Lydgate's lag in seiner guten Herkunft, welche ihn von allen Middlemarcher Bewunderern Rosamunden's vorteilhaft unterschied und die Verheiratung mit ihm als eine Rangerhöhung und eine Annäherung an jene himmlische Sphäre auf Erden erscheinen ließ, in welcher sie nichts mit gemeinen Leuten zu schaffen haben und schließlich vielleicht in intimen Verkehr zu Verwandten ihres Mannes treten würde, welche ganz auf einer Stufe mit dem Landadel standen, der so geringschätzig auf die Middlemarcher herabblickte. Rosamunde war mit dem feinsten Sinn für den zarten Duft gesellschaftlicher Distinktion begabt, und als sie einmal die Fräulein Brooke's in Begleitung ihres Onkels bei den Assisen mitten unter der Aristokratie sitzend gesehen, hatte sie dieselben ungeachtet ihrer einfachen Toilette beneidet.

      Sollte es meinen Leserinnen unglaublich vorkommen, daß die Vorstellung von Lydgate's Familienbeziehungen bei Rosamunden ein Entzücken hervorrief, welches sie glauben ließ, daß sie in ihn verliebt sei, so möcht' ich sie doch bitten, ihre Fähigkeit, Vergleiche anzustellen, ein wenig zu schärfen und sich zu fragen, ob Uniform und Epaulets nicht noch jetzt bisweilen einen ähnlichen Einfluß üben. Unsere Leidenschaften leben nicht in gesonderten Räumen, sondern tragen ihre Speisen zu einem gemeinschaftlichen Mahle zusammen, an welchem sie, in die dürftige Toilette ihrer kleinen dünkelhaften Vorstellungen gekleidet, eine Jede nach ihrem Appetit von ihrem gemeinschaftlichen Vorrat speisen.

      In der Tat war Rosamunde ausschließlich, nicht sowohl mit Tertius Lydgate, wie er seinem Wesen nach war, sondern mit seinem Verhältnis zu ihr beschäftigt, und es war bei einem Mädchen, welches zu hören gewöhnt war, daß alle jungen Leute in sie verliebt sein möchten, könnten, würden oder wirklich wären, entschuldbar, wenn sie ohne weiteres annahm, daß Lydgate keine Ausnahme bilden könne. Seine Blicke und Worte bedeuteten für sie mehr als die anderer Männer, weil sie mehr Wert auf dieselben legte; sie dachte daher sorgfältig über diese Blicke und Worte nach und war eifrig bemüht, sich jene Vollendung der Erscheinung, des Benehmens, der Empfindungen und alle übrigen Vollkommenheiten anzueignen, welche bei Lydgate eine kompetentere Würdigung zu finden versprachen, als ihnen bisher noch geworden war.

      Denn Rosamunde war, obgleich sie sich nichts zugemutet haben würde, was ihr nicht persönlich angenehm war, doch sehr fleißig und jetzt mehr als je darauf bedacht, Landschaftsskizzen und Portraits ihrer Freunde zu zeichnen, musikalische Studien zu machen, kurz von Morgen bis Abend daran zu arbeiten, sich ihrem eigenen Ideale einer vollendeten Dame mehr und mehr zu nähern, wobei sie sich beständig in ihrem eigenen Bewusstsein und bisweilen zur nicht unwillkommnen Abwechslung in den Blicken zahlreicher Besucher des Hauses spiegeln konnte. Sie fand auch Zeit, die besten und selbst die nächstbesten Romane zu lesen und wußte viele Stellen aus Dichtern auswendig. Ihr Lieblingsgedicht war »Lalla Rookh.«

      »Ein herrliches Mädchen! Glücklich der Mann, welcher die bekommt!« dachten die ältlichen Herren, welche das Vincy'sche Haus frequentierten; und die einmal abgewiesenen jungen Leute ließen sich dadurch nicht abschrecken, sondern gingen mit dem Gedanken um, ihr Glück noch einmal zu versuchen, wie es in Provinzialstädten, wo der Horizont nicht von Nebenbuhlern wimmelt, Sitte ist.

      Aber Frau Plymdale meinte, die große, auf Rosamunden's Erziehung verwendete Sorgfalt sei lächerlich; denn wozu sollten ihr Talente und Kenntnisse dienen, von denen sie keinen Gebrauch mehr würde machen können, sobald sie einmal verheiratet wäre, während ihre Tante Bulstrode, welche ein schwesterlich treues Herz für die Familie ihres Bruders hatte, zwei aufrichtige Wünsche für Rosamunde hegte: daß sie nämlich eine ernstere Richtung einschlagen und daß sie einen Mann bekommen möchte, dessen Vermögen ihren Gewohnheiten entspräche.

      17

      The clerkly person smiled and said,

      Promise was a pretty maid,

      But being poor she died unwed.

      Farebrother, welchen Lydgate am nächsten Abend besuchte, wohnte in einem alten steinernen Pfarrhause, dessen ehrwürdiges Aussehen ganz zu der Kirche paßte, auf welche es blickte. Auch die ganze Einrichtung des Hauses war alt, wenngleich aus einer jüngeren Zeit als dieses selbst, aus der Zeit des Vaters und des Großvaters Farebrother's. Da standen lackierte Stühle mit vergoldeten Blumen und Polstern von verblichenem roten Seidendamast, in denen