Wenn man erwägt, daß die Statistik damals noch nicht festgestellt hatte, daß es, allen Veränderungen der Zeiten zum Trotz, immer eine gewisse Anzahl von unwissenden oder quacksalbernden Ärzten geben muß, so wird man es begreiflich finden, daß Lydgate dafür hielt, eine Veränderung der Einzelnen sei der direkteste Weg, eine Veränderung der Massen zu bewirken. Er wollte an seinem Teil dazu mitwirken, daß eine immer größere Anzahl besserer Elemente den Durchschnittsärzten gegenüberträte, und wollte sich gleichzeitig die Freude bereiten, seine Patienten sofort der segensreichen Wirkung dieses Entschlusses teilhaftig werden zu lassen. Aber mit der rationellen Behandlung seiner Patienten würde er das Ziel seines Strebens noch nicht erreicht haben. Sein Ehrgeiz strebte noch höhere Zwecke an; ihn begeisterte der Gedanke an die Möglichkeit, einer neuen Begründung der anatomischen Wissenschaft die Wege zu bahnen und sich so einen Platz in der Reihe der Entdecker zu sichern.
Scheint es Euch vielleicht abgeschmackt, daß ein praktischer Arzt aus Middlemarch davon träumt, ein Entdecker zu werden? Die Meisten unter uns erfahren herzlich wenig von dem Leben der großen schöpferischen Geister, so lange dieselben nicht unter die Sterne aufgenommen sind und unsere Geschicke beherrschen. Aber wie; war nicht z. B. Herschel, »der die Schranken des Himmels durchbrach,« einst Organist an einer Provinzialkirche und gab stümpernden Schülern Klavierunterricht? Jeder von jenen Sternen erster Größe hatte auf Erden unter Nachbarn zu wandeln, die vielleicht viel mehr an seinen Gang und seinen Anzug als an irgend etwas von Dem dachten, was ihm einen Anspruch auf ewigen Ruhm geben sollte; jeder von ihnen hatte seine persönliche Local-Geschichte mit ihren kleinlichen Versuchungen und quälenden Sorgen, welche seiner endlichen Aufnahme in die Genossenschaft der Unsterblichen hindernd in den Weg traten.
Lydgate war nicht blind gegen die Gefahren solcher Hindernisse, aber er hoffte im Vertrauen auf die Energie seines Entschlusses zuversichtlich, denselben aus dem Wege gehen zu können, und glaubte, da er bei seiner Niederlassung in Middlemarch bereits siebenundzwanzig Jahre alt war, sich auf seine Lebenserfahrungen verlassen zu dürfen. Er wollte sich daher den Versuchungen der Eitelkeit, wie sie in den glänzenden Erfolgen einer hauptstädtischen Karriere liegen, nicht aussetzen, sondern wollte seine Tage unter Leuten zubringen, die als Rivale bei der Verfolgung einer großen Idee, welche im engsten Zusammenhang mit einer eifrigen Betreibung seines Berufs den Hauptzweck seines Lebens ausmachen sollte, nicht in Betracht kommen konnten. Es lag für ihn etwas Bezauberndes in der Hoffnung, daß diese beiden Lebenszwecke befruchtend und erleuchtend auf einander wirken würden; die sorgfältigen Beobachtungen und Schlussfolgerungen, welche seine tägliche Beschäftigung ausmachten, der Gebrauch der Lupe in besonderen Fällen, würden sein Denken zur Vornahme tiefer gehender Untersuchungen nur um so fähiger machen. War das nicht der charakteristische Vorzug seines Berufs? Er würde ein guter praktischer Arzt in Middlemarch sein und sich grade durch diese Praxis auf der Spur weitreichender Forschungen erhalten.
In einem Punkte kann er dabei gewiß auf unsere Zustimmung rechnen: er wollte es nicht jenen philanthropischen Mustern nachtun, welche aus giftigen Mixturen pekuniären Vorteil ziehen, während sie öffentlich alle Verfälschungen brandmarken oder Inhaber von Aktien einer Spielhölle sind, um sich durch diesen heimlichen Erwerb in den Stand zu setzen, öffentlich als Vorbilder der Sittlichkeit und Respektabilität dazustehen. Er beabsichtigte mit einigen besonderen Reformen in seiner Praxis zu beginnen, welche er ins Werk zu setzen vollkommen im Stande war und bei welchen es ein viel geringeres Problem als die Darlegung eines anatomischen Systems zu lösen galt.
Eine dieser Reformen sollte darin bestehen, daß er, unter Berufung auf eine kürzlich erlassene gesetzliche Entscheidung, einfach Arznei verschreiben wollte, ohne sie selbst zu verabreichen oder sich von Apothekern Prozente geben zu lassen. Das war von einem jungen Manne, der sich als praktischer Arzt in einer Provinzialstadt niederlassen wollte, eine gefährliche Neuerung, welche von seinen Berufsgenossen voraussichtlich wie eine beleidigende Kritik ihres Verfahrens aufgenommen werden würde. Aber Lydgate wollte auch in seiner Behandlung der Kranken Neuerungen einführen, und er war weise genug einzusehen, daß eben die gänzliche Enthaltung von der Dispensation von Arzneien die beste Garantie dafür sei, daß er auch in der Praxis redlich seiner Überzeugung folgen werde.
Vielleicht war jene Zeit Beobachtern und Forschern günstiger als die unsrige. Wir sind geneigt die Zeit nach der Entdeckung Amerikas, wo ein kühner Seemann, auch wenn er scheiterte, hoffen konnte, seinen Fuß auf den Boden eines neuen Königreichs zu setzen, für die schönste zu halten, welche die Welt noch erlebt hat; im Jahre 1829 aber waren die unerforschten Gebiete der Pathologie ein schönes Amerika für einen mutigen jungen Abenteurer.
Lydgate's höchster Ehrgeiz war es, dazu beizutragen, die wissenschaftlich rationelle Basis seines Berufs zu erweitern. Je lebhafter er sich für spezielle Krankheitsfragen interessierte, wie z. B. für die Natur des Fiebers oder der verschiedenen Fieber, desto dringender empfand er die Notwendigkeit jener Fundamental-Wissenschaft der Struktur des menschlichen Körpers, welche grade im Beginn des Jahrhunderts von Bichat während seiner kurzen und ruhmvollen Laufbahn neu begründet worden war – von Bichat, welcher schon im Alter von einunddreißig Jahren starb, aber wie ein zweiter Alexander ein Reich hinterließ, welches für viele Erben groß genug war. Dieser große Franzose war der Erste, der die Idee zur Geltung brachte, daß für eine auf den Grund der Dinge gehende Betrachtung lebende Körper nicht eine Verbindung von Organen seien, welche verstanden werden können, wenn man sie erst getrennt und dann so zu sagen in ihrem Bundesverhältnis untersucht, sondern dahin aufgefaßt werden müssen, daß sie aus gewissen primären Geweben bestehen, aus welchen die verschiedenen Organe: das Gehirn, das Herz, die Lungen u. s. w., sich ein Jedes zusammensetzen, wie die verschiedenen Teile eines Hauses aus Holz, Eisen, Stein, Backstein, Zink u. s. w., jeder wieder in verschiedenen Verhältnissen, zusammengefügt sind. Man sieht, kein Mensch kann den ganzen Bau und seine Teile, seine Schwächen und die Mittel zur Hebung derselben verstehen, ohne die Natur der Materialien zu kennen. Und diese von Bichat zur Geltung gebrachte Idee mit seinen genauen Einzelstudien der verschiedenen Gewebe wirkte mit Notwendigkeit auf medizinische Fragen, wie eine plötzliche Gasbeleuchtung auf eine von Öllampen matt erleuchtete Straße wirken müßte, indem sie neue Beziehungen und bis dahin verborgene Strukturverhältnisse aufdeckte, welche von nun an bei der Beobachtung der Krankheitssymptome und bei der Wirkung der Arzneien in Rechnung gebracht werden mußten. Aber Resultate, welche von menschlicher Intelligenz und Gewissenhaftigkeit abhängen, brechen sich langsam Bahn, und gegen Ende des Jahres 1829 wandelte die medizinische Praxis noch überwiegend, stolzierend oder humpelnd, auf den alten Bahnen, und ein großer Teil der wissenschaftlichen Arbeit, von welcher man hätte glauben sollen, daß sie auf Bichat's Entdeckungen unmittelbar folgen müßte, war noch zu tun.
Dieser große Seher verfolgte die anatomische Analyse bis zu ihren äußersten Grenzen und glaubte auf diesem Wege in den Geweben die Elemente des Organismus gefunden zu haben. Einem andern Geiste blieb es vorbehalten, zu fragen, ob nicht diese verschiedenen Strukturen eine gemeinschaftliche Basis haben, aus welcher sie alle hervorgegangen seien, wie, um mich eines trivialen Beispiels zu bedienen, die verschiedenen Seidengewebe, wie Taft, Flor, Tüll, Atlas und Samt, aus demselben Kokon hervorgehen; das würde ein ganz neues Licht über den eigentlichen Kern der Dinge verbreiten und zu einer Revision aller bisherigen Anschauungen nötigen.
An diesen Folgerungen aus der Arbeit Bichat's, welche bereits in vielen Strömungen des europäischen Geistes zu Tage traten, nahm Lydgate ein begeistertes Interesse; sein sehnlicher Wunsch war, die genaueren Beziehungen des Körperbaues in seinem lebenden Zustande nachweisen und dazu behilflich sein zu können, das menschliche Denken auf diesem Gebiete folgerichtig zu entwickeln. Die Arbeit war noch nicht getan, sie war nur vorbereitet. Was war das ursprüngliche Gewebe? So stellte Lydgate die Frage – nicht ganz in der durch die noch ausstehende Antwort geforderten Weise; aber dieses Verfehlen des rechten Wortes begegnet vielen Forschern. Und er rechnete darauf, in seinen Mußestunden die Fäden der Untersuchung auf Grund vieler Fingerzeige, nicht nur des Skalpells, sondern auch des Mikroskops, dessen man sich mit neuem enthusiastischen Vertrauen wieder zu bedienen angefangen hatte, weiter spinnen zu können. So hatte sich Lydgate für seine Zukunft