Sie zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt, und knallte die Schublade zu.
Ich bin nicht nur eine Gefangene, sondern auch noch die Zweitbesetzung für Elisabeth, schrie sie innerlich auf.
Ich darf mich nicht durch den Luxus hier einwickeln lassen, sonst bin ich bald nur noch ein Schatten meiner eigenen Persönlichkeit! Was wäre ich denn ohne meine Arbeit, meine Freiheit, eingesperrt im Dunkeln?
Frustriert und den Tränen nahe, stützte sie ihre Ellenbogen auf den Schreibtisch und vergrub ihren Kopf in den Händen. Denn trotz allem hallte Johns Warnung in ihren Gedanken: „Du bist zwischen die Fronten geraten.“ Und die Gefangenschaft durch Ramón würde sie auch nicht so schnell vergessen. Aber vielleicht übertrieb John ja und das Beste wäre, sie würde sich klammheimlich davonschleichen?
Sie musste an den Ausspruch denken: „Was nützt das Leben dem, der stets vor dem Tode zittert?“
Den Kopf in den Händen vergraben, spürte sie eine angenehme nächtliche Sommerbrise und atmete erleichtert auf. Sie blickte hoch und entdeckte John, der nach draußen in die Nacht schaute. Seine Hände krampften sich um die Griffe der Flügeltüren. Dann seufzte er und drehte sich zu ihr um. „Wenn du trotz allem bereit bist, das Risiko einzugehen, fahre ich dich in dein Zuhause. Ich habe Elia angerufen. Er sagt, auf deinen Überwachungskameras ist niemand zu entdecken. Du kannst nach dem Rechten sehen und alles einpacken, was dir wichtig ist, aber ich muss …“, er hielt inne, als versuche er, sich mit Gewalt zu zügeln, „dich bitten, wieder mit mir zurückzukommen, bis wir sicher sind, dass für dich keine Gefahr mehr besteht. Es tut mir leid, ich weiß, du würdest lieber …“
„Einverstanden. Wann?“ Dieses Angebot fiel ihm sichtlich schwer, also ergriff sie sofort die Chance, bevor er es sich anders überlegen konnte. Und vielleicht gelang es ihr zu Hause ja auch, ihn zu überreden, dass er sie dortließ.
„Am besten sofort, aber wir müssen sehr vorsichtig sein.“
Er verschwand für einen Moment und kam mit einer weißen Weste zurück. „Die hat Vinz gerade gebracht. Steh auf und streck die Arme seitlich aus.“
Sie stand auf, fragte aber beiläufig: „Muss das sein?“
Doch ein Blick in sein Gesicht reichte. Er wirkte, als beabsichtige sie, an die Frontlinie einer Schlacht zu gehen.
Mit einem leisen Protestschnauben hob sie beide Arme. Und während John mit lautem Ratschen alle Klettverschlüsse der Weste öffnete, sodass er zwei lose Teile in der Hand hielt, fragte sie: „Krieg ich auch einen Stahlhelm?“
„Hatte Vinz leider nicht vorrätig“, meinte er nebenbei.
„Das war ein Scherz, John!“
Aber er ging nicht darauf ein, legte ihr nur das Vorderteil der schusssicheren Weste auf den Oberkörper.
„Festhalten.“
Das Rückenteil legte er nun exakt so auf die Klettverschlüsse des Vorderteils, dass sich die Weste überraschend bequem an ihren Oberkörper anpasste.
„Eine kugelsichere Weste habe ich mir wesentlich schwerer vorgestellt“, bemerkte sie erstaunt.
„Der Vorteil von Kevlarmaterial. Es ist relativ leicht.“
John war auffallend einsilbig und schloss mit äußerster Sorgfalt und todernster Miene alle Klettverschlüsse.
Lara wurde nervös. „John, du benimmst dich, als würde uns direkt vor der Tür ein Kugelhagel erwarten.“
Für einen Moment blickte er sie stumm an und mit einem Mal spürte sie durch die Symbiose eine starke Empfindung von ihm, mit der sie nicht gerechnet hätte: Angst.
Als er mit seiner Antwort zögerte, wurde ihr plötzlich klar, dass sie wegen ihrer symbiotischen Verbindung merken würde, wenn er sie belog. Schließlich brach er den Blickkontakt ab und konzentrierte sich wieder auf die Weste.
„Sieh es als Hintergrundrecherche, falls du mal dein Genre wechselst und Drehbücher für Actionfilme schreibst.“
Sie fühlte sich mit einem Mal wie eingefroren. Sein salopper Satz änderte daran nichts.
John hielt wieder inne, als könnte er ihre Angst spüren. Dann hob er ihr Kinn und gab sich Mühe, aufmunternd zu lächeln. „Ich werde auf dich aufpassen.“
Er korrigierte noch Kleinigkeiten, dann schien er mit dem Sitz ihrer Weste zufrieden zu sein.
„So, fertig. Kommst du immer noch gut an deine Glock?“
Verblüfft griff sie nach hinten. „Ja! Auch du lieber Himmel, hab ich das Ding im Garten die ganze Zeit über getragen?“
„Jep. Sollte ja beim Sitzen auch nicht drücken, erinnerst du dich?“
John grinste in seiner typischen, spitzbübischen Art und Lara boxte ihn dafür in die Schulter.
Sein Grinsen wurde noch breiter, als er ihre Hand hob und ein sehr flaches Messer in einer dünnen Lederscheide hineinlegte. „Hier, für deinen Stiefel. Sorry, aber Vinz hatte in der Waffenkammer keine scharfen Brieföffner mehr vorrätig.“
Für diesen Scherz boxte sie ihn noch mal, konnte ihr Schmunzeln aber nicht verbergen. Sie war nicht dumm, wusste, dass John versuchte, sie abzulenken – mit Erfolg.
Und er setzte noch einen oben drauf: „Raven würde sagen, du musst an deiner Schlagtechnik arbeiten.“
„Mach weiter so und du wirst zu meinem Boxsack!“
Er lächelte, musterte aber nebenher ihr Outfit.
Währenddessen staunte sie selbst, mit welcher Routine sie ihr neues Messer in den Stiefel steckte.
„Gut, dass du diese praktischen Schuhe trägst.“
„Ja, für die Suche nach dir: flache Absätze und rutschfeste Sohle. Ich wollte ja weglaufen können, falls sie mich entdecken.“
Sie sah hoch und merkte, dass Johns Lächeln erstarb.
„Benedikt hatte recht“, murmelte er, „du bist das Risiko bewusst eingegangen.“ Er fasste sie an beiden Schultern, seine bernsteinfarbenen Augen blickten sie mit unverhohlener Sorge an. „Bitte mach so was nie wieder.“
Durch diese übernatürliche Verbindung zu ihm würde sie ihn nicht belügen können. Als wüsste er die Antwort, schloss er kurz die Augen, holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durch die goldbraunen Locken.
Wortlos überprüfte er ihre Glock ein letztes Mal und lud sie durch. Zum Abschluss legte er ein Handy in ihre Hand.
„Alle Nummern der Wächter und die des Hauptquartiers sind hier eingespeichert.“
„Ist das denn wirklich alles nötig?“
„In dem Restaurant, wo sie mich gefangen nahmen, war ein kleiner Junge im Schlafanzug mit rotem Spielzeugauto“, sagte John traurig, brach den Satz ab und schaute zur Seite. „Sie haben nicht mal vor Giftgas zurückgeschreckt.“
Sie schluckte. „Dagegen hilft das hier aber auch nicht.“
„Aber die hier.“
Erschrocken drehten sich beide zur Tür. Unbemerkt war ein Vampir in die Wohnung gekommen, der Lara mehr als einmal eine Heidenangst eingejagt hatte. Seine langen feuerroten Locken waren ebenso wild und grimmig wie er selbst.
Er hatte sie gehasst, weil John sein Leben riskiert hatte, um sie zu retten, nachdem sie wegen ihres Gehirntumors von einer Eisenbahnbrücke in den vermeintlichen Tod gesprungen war.
Seine Statur und Kleidung – hochgekrempeltes, kariertes Flanellhemd, darunter graues Rippenshirt und robuste