Er war gezwungen, Ramón bedingungslos zu dienen, andernfalls bestrafte man seine Mutter vor seinen Augen. Falls er einen Fluchtversuch wagte, würde man sie sehr langsam und grausam töten.
Raven, seinem tragischen Vorgänger und unfreiwilligem Ausbilder, war es ebenso ergangen. Doch Raven hatte vor Ramón nur eine Show abgezogen und seiner Mutter in Wahrheit nie ein Haar gekrümmt. Für alle unsichtbar war – hinter Ramóns Rücken und unter seiner brutalen Gewalt – eine felsenfeste Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Doch als Raven mit Rose und Alice floh, hatte er zurückbleiben müssen, da seine Mutter, wie fast immer, an einem anderen Ort festgehalten worden war.
Seine Mutter wischte sich die Tränen ab, als sie mit der Prozedur fertig war, und hielt ihm ihr Handgelenk hin.
„Diese Verbrecher haben dich völlig ausgehungert, du brauchst dringend viel Blut.“ Sie machte einen tiefen Atemzug und legte ihre Hand an seine Wange. „Hassan, mein Sohn, ich will, dass du dem endlich ein Ende setzt. Trink und hör nicht auf, bis der letzte Tropfen meines Blutes in dir ist. Ich kann nicht mehr ertragen, was du meinetwegen zu erleiden hast.“
„Ich wäre nicht dein Sohn, wenn ich dir dein Leben nehmen könnte.“ Doch das war kein Leben mehr für sie. „Ich finde einen Ausweg.“
„Es gibt keinen Ausweg, Hassan, und das weißt du auch.“
Er spürte, dass sie dabei war, endgültig zu zerbrechen.
Unter Schmerzen hob er seine Hand, an der eine schwere Kette hing und berührte ihre tränennasse Wange. Er tat das Einzige, was er für seine Mutter tun konnte – er ließ sie einschlafen.
Der Hunger nach Blut brannte wie ein Feuer in ihm, dennoch wagte er nur ganz wenig von seiner ohnehin geschwächten Mutter zu trinken. Sein Hunger würde ihn weiter quälen und seine Wunden nicht richtig verheilen, bis er eine andere Quelle fand. Was eingesperrt in dieser fensterlosen Zelle tief unter der Erde unmöglich war.
Kapitel 11
John stand immer noch auf der großen Steinterrasse und sah zu, wie das letzte Violett verblasste und sich die ersten Sterne am Abendhimmel zeigten, als Lara vom Garten auf das Haus zustrebte.
Sie sah entspannter aus. Das Arbeiten an der frischen Luft hatte sie anscheinend abgelenkt. Doch als sie nah genug war, um ihn zu erkennen, wurde ihre Haltung hart.
Auf der Terrasse angekommen, schlug ihm die Kälte in ihrem Gesicht wie eine Ohrfeige entgegen.
„Du siehst aus wie ein Gefängniswärter, der kontrolliert, ob die Gefangenen brav in ihre Zellen zurückkehren. Diese Rolle hast du dir selbst verschafft und ich hoffe, sie gefällt dir, denn etwas anderes wirst du in Zukunft nicht für mich sein!“
„Lara, ich wollte doch nur …“
„Mir meine Rechte vorlesen?“, fragte sie sarkastisch, „denn die hab ich hier wohl nicht.“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „Ich komm nur rein, um den Akku aufzuladen.“
„Du kannst den Mahagonischreibtisch im Arbeitszimmer für dich haben.“ Er zeigte auf die Tür im Wohnzimmer, die dort hinführte. Der Impuls, sie stattdessen in die Arme zu schließen, ihr alles zu erklären, sie zu trösten, war beinahe übermächtig. Aber er spürte die unsichtbare Wand zwischen ihnen.
Ohne ein weiteres Wort ging sie mit energischen Schritten an ihm vorbei.
Lara hatte ihre Krallen geschärft und sich hart gemacht, um für ihre Freiheit zu kämpfen.
„Lara, bitte – wir sollten in Ruhe miteinander reden …“
Wütend wandte sie sich um. „Wärter und Gefangene plaudern nicht miteinander, das solltest du dir merken. Und nur damit du’s weißt: Ich habe in Physik aufgepasst! Ein Zaun, der unter Starkstrom steht, würde mich nicht aufhalten! Die Geflügelschere aus der Küche, deine Gummistiefel und dicken Lederhandschuhe aus dem Schrank – mehr bräuchte ich dazu nicht.“
Sie war ihre Flucht also schon im Geist durchgegangen.
Er erinnerte sich, wie sie die Mauer gemustert hatte, dort, wo Brennholz bis fast nach oben aufgestapelt war. Gut, dass er ihr vorhin nichts von der Lichtschranke erzählt hatte, die Alarm auslösen würde.
Als er ihr nachsah, wie sie im Arbeitszimmer verschwand, fragte er sich, ob er eben schnell den Brennholzstapel entfernen sollte. Denn selbst wenn sie auf die Mauer käme, könnte sie sich beim Sprung hinunter die Knochen brechen.
Doch etwas an ihrer Haltung ließ ihn innehalten: ihre Schultern – sie hingen frustriert herunter. Er erinnerte sich an Benedikts Worte vom Schmetterling, der sich selbst die Flügel zerstörte. Lara kämpfte verzweifelt und mit all ihrer Kraft gegen ihn an.
Durch die Symbiose spürte er ihre Wut ebenso wie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Sein Herz krampfte sich bei dem Wissen zusammen, dass er an diesem Zustand schuld war. Er musste auf sie zugehen und einen Kompromiss aushandeln, andernfalls würde er unwiederbringlichen Schaden bei ihr anrichten. Außerdem war es höchste Zeit, Benedikts Rat zu beherzigen und seinen taktischen Verstand einzusetzen, um ihre praktischen Probleme zu lösen. Die zwischen einer Klaustrophobikerin, die weder Blut annehmen noch schenken wollte, und einem Vampir. Vermutlich die größte Herausforderung seines Lebens …
Gerade als er zu ihr gehen wollte, hörte er jemanden an seiner Tür. Nur Vampire waren so leise. Er änderte die Richtung.
***
Zornig war Lara ins Arbeitszimmer gestapft und hatte ihren Laptop an das Ladekabel angeschlossen, das schon bereitlag. John dachte wirklich an alles, das musste man ihm lassen. Das zeigte auch die unübersehbar platzierte schwarze American Express Centurion, auf die ihr Blick jetzt fiel. Am liebsten hätte sie das Ding mit einem saftigen Fluch in die Ecke geschleudert.
Sie wollte sich nicht abhängig machen, wollte ihre faktische Gefangenschaft nicht stillschweigend akzeptieren! Wie zum Beweis hoben sich in diesem Moment die programmierten Stahljalousien der bodenhohen Fenster, was in diesem Käfig immer nur geschehen würde, wenn es stockdunkel war!
Man hatte sie dazu erzogen, anderer Leute Eigentum zu respektieren. Also warf sie diese Kreditkarte, die man nur auf Einladung erhielt und für die ihr Einkommen nicht in drei Leben reichen würde, nur auf den Schreibtisch, der ihrem gegenüberstand.
Ja, John musste steinreich sein, hatte einen männlichen Traumkörper zum Anbeißen und einen Charakter, der seinesgleichen suchte. Unwillkürlich dachte sie an ein Interview zurück.
„Ich finde, Sie schreiben sich die Männer in Ihren Romanen schön, Frau Livingstone“, hatte ihr eine Reporterin vorgeworfen. „Das ist das Recht und das Vergnügen einer Autorin“, war ihre Antwort gewesen.
Bei John bräuchte sie sich jedenfalls nichts schön schreiben. Und in ihrer ersten und einzigen gemeinsamen Nacht vor einigen Tagen hatte sie aufs Angenehmste erlebt, dass er auch im Bett – oder auf dem Tisch – keine Wünsche offen ließ. Außerdem wäre sie jede Wette eingegangen, dass John sie von vorne bis hinten verwöhnen würde, wenn sie es wollte – und das nicht nur im Bett.
Trotz ihrer Differenzen behandelte er sie wie einen wertvollen Schatz, deshalb fiel es ihr auch schwer, ihn zu hassen.
Mit einem Seufzen lehnte sie sich auf dem viel zu bequemen, lederbezogenen Holzstuhl zurück.
Mist! Wenigstens der Stuhl sollte hart sein wie in einer Zelle, damit sie schimpfen konnte!
Sie ließ ihren Blick durch das Arbeitszimmer schweifen. Es war so funktional eingerichtet wie ein Büro, jedoch mit dem gemütlichen Ambiente eines Wohnzimmers, oder besser gesagt, dem eines alten englischen Clubs. Dunkles, poliertes Holz, edles Leder, hochwertige Ausstattung.
Der stilvolle Schreibtisch aus rotbraunem