Epidemiologie für Dummies. Patrick Brzoska. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Patrick Brzoska
Издательство: John Wiley & Sons Limited
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783527837212
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des Cholera-Ausbruchs 1854

      Die epidemische Kurve gibt Ihnen Informationen über die Dynamik eines Krankheitsausbruchs. An der Kurve können Sie erkennen, dass der Ausbruch sehr plötzlich begann und binnen kurzer Zeit sehr viele Menschen betraf. Allein am 1. September erkrankten rund 140 Menschen und verstarben später. Epidemiologen deuten das als Zeichen, dass sich die meisten Betroffenen an der gleichen Infektionsquelle ansteckten. Sie sprechen daher von einer »common source epidemic«.

      

Bei einem kurzen Ausbruch sollten Sie die epidemische Kurve tagesweise zeichnen, auch wenn es viel Arbeit macht. Wenn Sie mehrere Tage zusammenfassen, entgehen Ihnen wichtige Informationen.

       Alle Nutzer der Pumpe sind erkrankt oder verstorben.

       Alle verbliebenen Gesunden haben den Stadtteil verlassen.

       Das Wasser der Pumpe ist nicht mehr mit Cholera-Erregern verseucht.

       Der Pumpenschwengel wurde entfernt, sodass niemand mehr die Pumpe benutzt.

      Tatsächlich entfernte die lokale Verwaltung den Pumpenschwengel erst am 8. September, als der Ausbruch bereits am Abklingen war. Snow hatte zwar die richtige Idee. Es dauerte aber zu lange, bis er die lokale Verwaltung von seiner Sicht der Dinge überzeugen konnte.

      

Es ist nicht immer einfach, neue wissenschaftliche Erkenntnisse in die Politik einzubringen und Interventionen zu veranlassen.

      Der wirkliche Grund für den schnellen Rückgang war wohl, dass die Pumpe nur für kurze Zeit mit Cholera-Erregern verseucht war. Nur einen knappen Meter neben der Pumpe befand sich eine Senkgrube. Sie war undicht, sodass mit den eingeleiteten Fäkalien Cholera-Erreger ins Grundwasser gelangten – ein Kollege Snows fand das mithilfe einer Grabung heraus. Schon kurze Zeit nach der Verseuchung hatte das Grundwasser die Cholera-Erreger verdünnt oder davongeschwemmt.

      Schlussfolgerung und Interventionen

      Durch die Ergebnisse seiner epidemiologischen Detektivarbeit fand Snow seine Hypothesen zur Übertragung der Cholera bestätigt. Snow konnte dadurch erstmals wirksame Vorsorgemaßnahmen gegen die Cholera vorschlagen. Und das 30 Jahre bevor Robert Koch die genaue Natur der »morbid matter« ermittelte und als Bakterium namens Vibrio cholerae identifizierte! Snow forderte unter anderem:

       sauberes Trinkwasser bereitstellen

       Abwässer korrekt entsorgen

       Bettwäsche von Cholerakranken auskochen

       Quarantäne für Schiffe aus Choleragebieten

      In England entwickelte sich in den folgenden Jahrzehnten eine regelrechte Hygiene- und Sanitationsbewegung: Die Wasserversorgung wurde neu organisiert; die Lebenssituation der ärmeren Bevölkerung verbesserte sich langsam. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann die Lebenserwartung der Menschen deutlich und nachhaltig zu steigen.

      Politik und Wissenschaft arbeiten nicht immer problemlos zusammen. Der Senat von Hamburg beispielsweise lernte die Londoner Lektion von 1854 erst Jahrzehnte später und auf die harte Tour. Jahrelang schon hatte sich der Chef des hamburgischen Wasserwerks bei den Regierenden beschwert, dass das Trinkwasser aus der Elbe käme, wohinein auch die Abwässer flössen. Zumindest müsse das Wasser filtriert werden, bevor es in die Haushalte gelangte. Außerdem, so meinte er, müsse man Schiffe unter Quarantäne stellen, die Cholerafälle an Bord hatten. Der Senat hatte jedoch kein Geld für eine neue Wasserversorgung und war der Ansicht, dass Quarantäne den Handel behindern würde. Es kam, wie es kommen musste: 1892 brach in Hamburg die Cholera aus. Binnen weniger Wochen erkrankten rund 17.000 Menschen, fast 9.000 von ihnen starben.

      Alles olle Kamellen?

      Nun haben wir Sie fast ein ganzes Kapitel lang mit alten Geschichten und toten Epidemiologen gequält. Wir heutigen Epidemiologen benutzen aber viele Begriffe, Instrumente und Herangehensweisen ganz ähnlich wie Graunt, Farr und Snow. Vieles finden Sie direkt und indirekt in den folgenden Kapiteln wieder:

       Ungleiche Verteilung von Risiken in der Bevölkerung

       »Confounding« durch verschleiernden Faktor

       Gesundheitsberichterstattung

       Die drei epidemiologischen Fragen (Wer? Wann? Wo?)

       Exposition

       Falldefinition

       Bezugsbevölkerung

       Vergleiche zwischen exponierten und nicht exponierten Gruppen

       Relatives Risiko

       Punktkarte

       Epidemische Kurve

       »common source epidemic«

      Im Falle eines Falles

      IN DIESEM KAPITEL

       Wie Menschen zu Fällen werden

       Wie die Todesursache in die Todesursachenstatistik kommt

       Die »International Classification of Diseases«

       Medizinische und epidemiologische Krankheitsregister

       Lebt Elvis?

      Wie wird ein Mensch zu einem »Fall« in einer Gesundheitsstatistik? Erstens muss er Teil der Bevölkerung sein, auf die sich die Gesundheitsstatistik bezieht. Zweitens muss er den interessierenden Gesundheitszustand oder die Krankheit haben oder bekommen – oder an der betreffenden Todesursache verstorben sein.

      In diesem Kapitel zeigen wir Ihnen, wie Epidemiologen feststellen, ob ein Mensch zu einem Fall geworden ist. In Kapitel 4 geht es dann um die Bevölkerungen, aus denen die Fälle stammen.

      Epidemiologen definieren Fälle nicht nur für Gesundheitsstatistiken. Sie stellen ganz ähnliche Überlegungen an, wenn sie epidemiologische Studien durchführen. Mehr zu Falldefinitionen beispielsweise in Fall-Kontroll-Studien und bei Ausbrüchen von Epidemien erfahren Sie in den Kapiteln 9 bis 14 und 18.

      Ärzte sprechen oft von »Fällen«, wenn sie die Patienten meinen, die sie behandeln (»Die Leber auf Zimmer 17 …«). Wenn Sie das stört, werden Sie auch die epidemiologische Definition von Fällen nicht ansprechend finden. Aus epidemiologischer Sicht ist ein Fall ein neu eingetretener oder bestehender Outcome in einer Person oder einer Bevölkerung. Ein solcher Outcome kann sein:

       ein bestimmter Gesundheitszustand, beispielsweise eine nach eigener Einschätzung schlechte Gesundheit oder ein vom Arzt gemessener erhöhter Laborwert

       eine bestimmte Krankheit, etwa ein Herzinfarkt

       der Tod, unabhängig von der Todesursache oder durch eine bestimmte Todesursache wie beispielsweise Brustkrebs

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