Der Moment, in dem ich im Auto sitze und mein Freund mich vom Haus wegfährt, alle dastehen und mir nachschauen, der hat sich tief in meine Erinnerung eingebrannt. Das war unglaublich intensiv.
Ich muss meine Leute verlassen und fahre jetzt sozusagen meinem Henker entgegen. So komme ich mir irgendwie vor.
Das Spital sieht aus wie ein großer, befremdender Kasten. Ich werde wieder nervös. Komme ich da je wieder lebend raus? Es ist wirklich unglaublich. Ich kann diese destruktiven Gedanken im Moment nicht kontrollieren. Es scheint, als hätten sie ein Eigenleben, eine Eigendynamik bekommen.
Als erstes heißt es: Ab zur Patientenaufnahme! Da werden meine Personalien, Krankenkasseninfos usw. aufgenommen. Das ist also der Eintritt in die Höhle des Löwen. Jetzt gilt es ernst, jetzt kann ich mich nicht mehr drücken.
Und ab jetzt heiße ich Wilma Black!
Ich bin ehrlich entsetzt, nein geschockt. Wie kann man nur mit solchen Pseudonymen arbeiten? Da merkt man doch sofort, dass etwas faul ist. Dabei habe ich mir doch schon so schöne Namen für mich ausgedacht. Ich bin enttäuscht. Niemand hat mir erzählt, dass das Spital eigens eine Namenliste dafür hat und dass man einfach einen Namen zugeteilt bekommt.
Als ich die Option bekam, unter einem Pseudonym im Spital zu sein, kam mir das sehr gelegen. Es verschaffte mir Zeit.
Ich muss das alles zuerst selber begreifen. Und ich weiß ja nicht, wie alles herauskommt. Was, wenn etwas schiefläuft? Wenn jetzt die Presse von all dem Wind bekommt, dann bin ich geliefert. Beim Gedanken an Journalisten wird mir unwohl und ich stehe sofort unter Druck.
Ich hätte keine Ahnung wie reagieren. Ich bin ja sonst schon mit allem hier überfordert. Wilma Black ermöglicht mir, mich freier zu fühlen, gibt mir Luft zum Atmen und eben Anonymität. Aber mal ehrlich, wer um Himmelswillen heißt schon so? Da riecht man doch schon kilometerweit, dass etwas mit diesem Namen nicht stimmt.
Ich bekomme ein Einzelzimmer. Es ist weder groß noch klein. Ich versuche mich einzurichten so gut es eben geht. Mein Blick fällt auf das Schild am Bettpfosten. Da steht es schwarz auf weiß. Ich heiße jetzt Wilma Black. Tanja Gutmann ist für die nächsten Tage auf Eis gelegt. Ich fühle, wie wieder ein Schamgefühl in mir hochsteigt. Wilma Black! Derjenige, der sich diesen Namen ausgedacht hat, muss wohl ein Fred-Feuerstein-Fan gewesen sein.
Ich kann mich nur mit Mühe damit abfinden. An eine Identifikation ist hier definitiv nicht zu denken!
Dieses Zimmer ist also für die nächste Zeit mein „Zuhause“.
Sacha und ich sitzen da und warten. Und warten, und warten … Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. In diesem Warten steckt die ganze Emotionsfülle, die man sich vorstellen kann. Ich bin voll auf der Achterbahn. Da sind Tränen, Lacher, Küsse, beklemmendes Schweigen und vor allem Angst. Panik. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Todesangst. Mir ist kalt, ich habe Gänsehaut, der Kloss im Hals wird immer grösser. Ich fühle mich komplett in die Ecke gedrängt, wie ein verängstigtes Tier. Am liebsten würde ich laut herausschreien, die ganzen unangenehmen Gefühle rauslassen, meine Sachen packen, wieder nach Hause fahren und sagen: „Ihr könnt mich alle mal! Da mache ich nicht mit“. Ich will einfach mein „altes“ Leben wieder zurück! So wie es vorher war! Die Probleme, mit denen ich mich vorher herumgeschlagen hatte, sind jetzt nur noch Problemchen. Sie scheinen weit hinten am Horizont nur noch kleine Pünktchen zu sein. Eigentlich sind es gar keine mehr.
Was kommt hier auf mich zu? Ich habe keine Ahnung! Und genau das macht mir so zu schaffen. Ich weiß ja, dass das Leben unberechenbar sein kann. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich ausgeliefert. Abhängig von anderen, von Ärzten. Mein Leben, meine Zukunft befindet sich in den Händen von Fremden und ich kann nur hoffen, dass sie gut und vorsichtig damit umgehen.
Es ist ein verdammt unangenehmes Gefühl, Leuten sein Leben anvertrauen zu müssen, die man nicht mal kennt.
Ich habe vor allem Angst vor Schmerzen. Werde ich welche haben, wenn ja, was für welche und wie stark?
Stecke ich mitten in einer Woge der Angst, dann brennt und vibriert mein Brustkorb innerlich, mein Magen zieht sich nervös zusammen und egal wie viel ich atme, ich bekomme zu wenig Luft. In solchen Momenten bin ich ganz in mich gekehrt und abgeschottet von allem und jedem.
Trotz dieser Angstwellen versuche ich mir nach außen möglichst nichts anmerken zu lassen und den Ball flach zu halten. Das hilft mir den Boden unter den Füssen zu behalten. Würde ich alle diese Gefühle nur schon meinem Freund kommunizieren, ich glaube, ich würde durchdrehen! Dann würden diese Ängste die Oberhand über mich bekommen.
Es ist ein einziges Auf und Ab.
Ich bin so froh, ist Sacha da. Er lenkt mich immer wieder von meinen trüben Gedanken ab. Hin und wieder reißen wir auch mal einen lustigen oder ironischen Spruch. Dann lachen wir drauflos. Das tut extrem gut und schafft ein Stückchen Normalität. Lachen ist die beste Medizin in schwierigen Momenten und für mich jetzt gerade Balsam für die Seele. Einer meiner Leitsätze im Leben ist: Einfach nie den Humor verlieren. Diese Einstellung kommt mir jetzt zugute.
Tipp: Mit der akuten/spezifischen Angst umgehenEine akute Angst ist nicht nur ein unangenehmes Gefühl, sie kann auch lähmend sein. Sogar so, dass die einfachsten Alltagsaufgaben zu einem schier unmöglichen Unterfangen werden können. Aber du bist der Angst nicht machtlos ausgeliefert. Du kannst viel für dich selbst tun. | |
– | Finde heraus, wer und was dir die Situation und die Angst erträglicher macht. |
– | Wie reagiert dein Körper auf die Angst? Wie und wo nimmst du sie wahr? Das kann z. B. ein Druck, eine Verkrampfung oder eine Anspannung sein. |
– | Versuche deine Empfindungen zu beschreiben. |
– | Fühlst du die Angst, z. B. als Druck im Nacken, dann geh mit deinen Gedanken dort hin und versuche alles zu erfassen. Nur schon das Bewusstwerden und Benennen alleine kann lösend sein. |
– | Achte auf deinen Atem. Versuche im Moment der Angst tief in den Bauch einzuatmen und beim Ausatmen die Anspannung loszulassen. |
– | Bewegung kann helfen die Energie abzubauen und von der Angst weg wieder mehr zum Körpergefühl zurückzufinden. |
– | Wer sind deine Vertrauenspersonen und wer kann dich auch wirklich unterstützen? Wer tut dir gut? Es gibt Menschen, die mit solchen Situationen selbst überfordert sind. |
– | Was erwartest du von deinen Vertrauenspersonen und wie können sie dir helfen? Kommuniziere das deinen Leuten auch. |
– | Sprich über dein Schicksal und deine Angst, aber nur so viel und so oft es dir guttut. |
– | Ist man draußen unter weiteren Leuten, sind auch Codewörter eine gute Möglichkeit die Angst und andere Gefühle zu kommunizieren, ohne dass gerade jeder mitbekommt, wie es um einen steht. |
– | Gib dir eine Tagesstruktur/Tagesplanung. |
– | Verliere den Humor nicht. Nimm dich selbst auf die Schippe oder tu, was auch immer zu dir passt. Lache. |
– | Denke positiv. Alles wird gut. Die Angst ist nur ein Moment. Sie wird wieder vorbeigehen und dann geht es dir dafür doppelt so gut. |
– | Sei dir bewusst, Angst hat jeder Mensch. Du bist also nicht der /die Einzige. |
5. KAPITEL
Angiographie – Endlich geht etwas!
Es klopft kurz an der Tür. Mein Herz macht einen Satz und mein Puls schnellt in die Höhe. „Geht es etwa schon los? Ich bin noch gar nicht bereit dazu!“, meine Gedanken überschlagen sich fast. Aber es ist nur eine Pflegefachfrau, die vorbeikommt, um die üblichen Untersuchungen zu machen: Blutdruck und Temperatur messen sowie Blut entnehmen.
„Eine Kollegin kommt gleich noch vorbei um mit Ihnen das Eintrittsgespräch zu machen“, informiert sie mich zum Schluss. „Gut, dann kann ich ja den nächsten Türklopfer etwas entspannter angehen“, rutscht es aus mir heraus.
Die Pflegefachfrau, die mit mir die Pflegeanamnese macht, wird hier auch meine Bezugsperson sein.
Dann heißt es wieder warten. Die Ungewissheit, wann was passiert, macht mich echt wahnsinnig.