Dem Leben so nah wie nie zuvor. Tanja Gutmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Gutmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783906287195
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konfrontiert uns mit zu viel „Information“, die wir im Moment nicht verarbeiten können.

      Im Moment des Schocks schaltet der Körper auf das Notprogramm. Kampf, Flucht oder Erstarrung. Der Blutdruck steigt, der Puls rast, Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet.

      Ein derart belastender Moment kann z. B. als Lebensgefahr, intensive Furcht oder Kontrollverlust wahrgenommen werden und Gefühle wie Ohnmacht und Hilflosigkeit auslösen.

      Psychische Reaktionen können u. a. auch Desorientierung, Rückzug in sich selber, Hektik oder Fluchtreaktion, mechanische Handlungen oder auch eine veränderte Wahrnehmung sein, eine sogenannte Dissoziation. Man hat ein Gefühl der Unwirklichkeit, steht neben sich, fühlt sich in Watte gepackt oder hinter einer Glasscheibe.

      Jeder Mensch versucht Belastungen zu bewältigen oder in sein Leben zu integrieren und sie so zu kompensieren. Welche Wege er dabei einschlägt, hängt von seiner Persönlichkeit, seinen Erfahrungen/Prägungen und seinen individuellen sozialen Fähigkeiten ab.

      Meistens können belastende Erfahrungen verarbeitet werden.

      Kann jemand den Schock nicht bewältigen und entwickelt diese Person z. B psychische Probleme, Ängste, oder Depressionen, dann hat die psychische Belastung möglicherweise zu einer akuten Belastungsreaktion oder unter Umständen gar zu einem Trauma geführt.

      Ein Trauma ist eine schwere körperliche oder seelische Verletzung.

      Deshalb ist es wichtig sich professionelle Hilfe zu holen.

      In der Regel gilt: Je länger man wartet, bis man ein Trauma anpackt, desto länger wird es auch dauern, bis man es auflösen kann.

Tipp: Wie verarbeite ich eine Schocksituation?Ob man direkt von einem Schicksalsschlag oder Erlebnis betroffen ist, zu den Angehörigen und Freunden zählt oder man einfach eine belastende Situation beobachtet hat, unter Schock stehen oft
Akzeptiere, dass der Schock/das Trauma geschehen ist.
Gib dir Zeit, den Boden unter den Füssen wieder zu finden. Mach einen Schritt nach dem anderen.
Lass dich nicht hängen, hole dir als Erstes die psychische und seelische Stabilität zurück, indem du versuchst zu verstehen, was passiert ist, dir genügend Informationen einholst und versuchst, die Situation richtig einzuschätzen. Kannst du dir nicht selber erklären, was gerade passiert ist, dann finde jemanden, der dir das vermitteln kann.
Verkrieche dich nicht, sprich mit deinen Vertrauenspersonen oder einem Therapeuten über das Erlebte und die Gefühle.
Höre in dich hinein und tue was dir guttut.
Begib dich an einen gewohnten Ort oder umgib dich mit Menschen, die dir Sicherheit und Halt geben.
Auch Rituale können dir Sicherheit vermitteln.
Sei dir bewusst, die Schocksituation ist nur eine vorübergehende Situation.
Jeder Mensch kann in eine solche Situation geraten und hat Ängste. Nimm sie an und stelle dich ihnen. Du wirst sehen, sie verlieren ihre Kraft.
Wenn die Belastungssymptome anhalten, hole dir professionelle Hilfe bei einem Therapeuten.
Lass dich nur von jemandem therapieren, bei dem du ein gutes Gefühl hast und dem du vertrauen kannst.
Verarbeite die traumatische Situation gründlich.

      3. KAPITEL

      Weihnachten

      Ich breche langsam auf Richtung Luzern zu meinem Freund. Ich spüre, dass es meinen Eltern am liebsten wäre, ich würde bei ihnen bleiben. Aber ich möchte aus irgendwelchen Gründen, die ich auch heute noch nicht verstehe, an meinem Plan festhalten. Vielleicht auch, weil ich die Einladung nicht so spontan absagen will, mich irgendwie auch nicht traue, aber sicher auch, weil ich jetzt einfach ein Stück Normalität in meinem Leben brauche. Und diese Normalität ist eben am 24. Dezember mit der Familie meines Freundes zu feiern. Auch wenn das heißt, dass Weihnachten mit meiner eigenen Familie dieses Jahr ins Wasser fällt.

      Die Stimmung um den Weihnachtsbaum ist gedrückt. Es ist aber eine andere Bedrücktheit als zuhause, es ist irgendwie ein gehemmtes Bedrücktsein. Die Familie meines Freundes ist betroffen, interessiert und stellt mir Fragen, aber ich merke auch, dass sie nicht recht wissen, wie reagieren und was sagen. Das ist ja auch verständlich. Wie geht man mit so einer Situation um? Auch ich komme ihnen wohl verändert vor. Ich weiß ja selber nicht, wie ich die Situation handhaben soll. Auf eine Art bin ich verlegen, auf die andere Art komme ich mir einfach blöd vor.

      Ein bisschen erinnert mich die Situation an die Zeit kurz nach meiner Wahl zur Miss Schweiz. Plötzlich reagierten die Leute, auch solche die ich schon lange kannte, anders auf mich. Sie waren zurückhaltender. Für mich war das sehr komisch, denn ich war immer noch die gleiche Person wie vor der Wahl. Die Leute verhielten sich anders, weil sie mich plötzlich in einem anderen Licht sahen. Ich war eben nun für sie eine öffentliche Person, die auf den Titelseiten abgebildet war und nicht mehr einfach nur das Mädchen von nebenan.

      Die so typische und schöne Lockerheit, die sonst immer zwischen Sachas Familie und mir herrschte, ist zwar noch da und die tut mir auch richtig gut, aber zwischendurch gibt es immer wieder Momente, in denen ich eine gewisse Distanz fühle. Vielleicht liegt es auch an mir. Vielleicht fühle ich eine Beklemmung, weil ich innerlich aufgewühlt bin und mich schützen will oder weil meine Gedanken immer wieder zu meiner Diagnose abschweifen.

      Dann haben wir es wieder lustig und lachen zusammen. Das ist für mich die beste Medizin und doch fühle ich mich innerlich irgendwie einsam.

      Es zieht mich wieder ganz stark nach Solothurn zurück. Ich möchte etwas alleine sein, noch mal die beleuchtete Verenaschlucht sehen. Plötzlich werden Sachen wichtig, die mir vorher einfach nur schön oder auch einfach banal vorkamen. Dinge, die mich nun auf eine Art und Weise berührten, wie eben die Verenaschlucht, wenn sie am 24. Dezember mit hunderten von Kerzen beleuchtet ist.

      Ich verabschiede mich etwas früher als geplant von Sachas Familie und mache mich auf den Weg Richtung Solothurn.

      Ich fahre nicht direkt zu meinen Eltern nach Hause, sondern mache einen Abstecher in die Schlucht.

      Mittlerweile sind fast keine Leute mehr da. Sie ist wunderschön mit all den flackernden Flämmchen. Aber ich komme nicht so recht in Stimmung. Ich sehe das Meer von Kerzen aus einer gewissen Distanz und merke, dass ich nicht richtig präsent bin und immer noch unter einer dünnen Glashaube stecke. Seit der Diagnose habe ich wohl meinen Schutzschild nie ganz abgelegt.

      Die Schlucht, mein Leben, überhaupt die ganze Welt scheinen irgendwie anders zu sein. Mir ist zwar bewusst, dass sich die Welt noch genau so dreht und ich weiß auch, dass alles noch genau so ist, wie es vorher war und doch scheint alles anders zu sein. Meine Wahrnehmung hat sich verändert.

      Kaum oben angekommen laufe ich die Schlucht auch schon wieder runter. Auf einmal schießen mir die Gedanken wieder durch den Kopf: Was, wenn ich die Schlucht heute zum letzten Mal sehe? In rund zehn Stunden muss ich im Spital einchecken. Was kommt alles auf mich zu? Wie wird es sein operiert zu werden. Ich war noch nie im Spital, außer auf Besuch natürlich. Die Angst schleicht sich wieder in meine Knochen. Es ist krass, wie die Diagnose meine Welt durchschüttelt. Ich durchlebe pausenlos ein Wechselbad der Gefühle. Mal kann ich nicht mehr klar denken, alles ist surreal und verschwommen, die Gefühle sind wie ausgeschaltet, dann wieder überfallen mich alle Emotionen auf einmal.

      Ich bin fassungslos. Ich kann einfach nicht verstehen, warum mein Körper etwas produziert, das mir schadet. Und ich kann schon gar nicht verstehen, warum ich all die Signale nicht als solch eine Gefahr aufgefasst habe.

      Vielleicht habe ich heute Abend zum letzten Mal Weihnachten gefeiert und ich habe es nicht gewusst. Na ja, eigentlich weiß man ja nie, wann etwas zum letzten Mal ist. Und wenn dies wirklich meine letzte Weihnacht gewesen sein soll, dann habe ich sie nicht einmal mit meiner Familie verbracht! Mir schießen die Tränen in die Augen und ich habe das Gefühl, meine Leute im Stich gelassen zu haben. Ich habe meinen Eltern und meiner Schwester nicht die Priorität gegeben, die sie hätten bekommen sollen. Ich hätte doch zu Hause bleiben sollen. Ich, der Familienmensch, verbringe meine