Jetzt geht’s richtig los. Er betäubt meine rechte Leiste. Ich atme tief ein und aus. Angst vor Spritzen habe ich nicht, aber ich finde sie auch nicht prickelnd.
Jetzt bin ich richtig nervös. Die Miss Schweiz Wahl war nichts dagegen! Das Leben zwingt mich gerade Sachen zu tun, die ich in keiner Art und Weise will.
Ist die Leiste gefühllos, wird als Erstes die Arterie punktiert. Dazu wird eine Hohlnadel, gefolgt von einem feinen Draht, ins Blutgefäß eingeführt. Danach wird die Nadel wieder herausgezogen. Der Draht dient nun dem Arzt als Führungsschiene, damit er eine sogenannte Schleuse platzieren kann (Seldingertechnik). Ich fühle mich wie beim Zahnarzt beim Bohren. Ich stehe unter Hochspannung und weiß nicht, wann ein Nerv getroffen wird und ein Schmerz durch den Körper jagt.
Manchmal muss die Haut nach und nach gedehnt werden, wenn diese zu straff ist oder eine größere Schleuse verwendet werden muss. Und da beginnt das Problem. Der interventionelle Neuroradiologe bringt die rund 2 mm dicke Schleuse einfach nicht durch meine Haut in die Arterie rein.
Er versucht es immer wieder und ich merke, wie er langsam ungeduldig wird. „Ich beginne noch mal von vorne“, sagt er zur MTRA. „Oh nein! Verdammt!“, schreie ich innerlich. Es tut höllisch weh. Abgesehen davon, dass ich da jetzt ein „kleines Loch“ in meiner Leiste habe, an dem er auch noch rumdrückt, ist das eine sehr empfindliche Stelle. Von wegen Betäubung und gefühllos! Innerlich bin ich verzweifelt und aggressiv gleichzeitig. „Mann, jetzt mach endlich vorwärts!“, schnaube ich in mich hinein. Ich versuche mich zusammenzureißen, tapfer zu sein, mir ja keine Blöße zu geben. Ohne Erfolg.
Im nächsten Moment sehe ich nur noch Köpfe über mir die mich prüfend anschauen. Jemand sagt: „Frau Gutmann, Frau Gutmann … Sie kommt wieder.“ Dabei tätschelt der wahnsinnig sympathische interventionelle Neuroradiologe meine Backe und ich höre wie ein Alarm bimmelt. Ich bin doch tatsächlich in Ohnmacht gefallen! Der Schmerz war einfach zu stark. Na super! Das ist mir gar nicht peinlich. Aber jetzt ist wenigstens diese Schleuse drin! Sie schauen mich alle prüfend an und fragen mich, ob alles o. k. ist. Ich nicke nur. „Das kommt davon, wenn man sich zu fest zusammenreißen will“, bemerkt mein „Freund“ trocken. „Jetzt macht der mich auch noch blöd an“, nerve ich mich. „Was hätte ich denn tun sollen, schreien vielleicht?“, entgegne ich stumm. Sagen tue ich aber nichts, schließlich bin ich ja unter seinen Fittichen. „Wir werden wohl nie beste Freunde“, denke ich und versuche ihn so gut es geht zu ignorieren.
Na ja, auf jeden Fall ist das Ding jetzt drin. Es kann also weitergehen. K. O. zu gehen hat manchmal eben auch sein Gutes.
Es ist ganz wichtig, dass die Schleuse richtig sitzt, denn sie ist der Arbeitszugang für die Untersuchung.
Alle im Raum tragen jetzt Bleischürzen um sich vor den Röntgenstrahlen zu schützen.
Der Spezialist fährt mit einem rund 1,5 mm dicken Katheter durch die Schleuse in meine Arterie hinein und durch diese hoch bis zur Mitte des Halses. „So, jetzt sind wir soweit und spritzen Kontrastmittel in Ihren Kopf. Es kann sein, dass Ihnen für ein paar Sekunden ganz heiß wird. Halten Sie ganz still, sonst wird das Bild nicht scharf und wir müssen es noch mal machen“, klärt er mich auf.
Und tatsächlich, für kurze Zeit scheine ich innerlich zu glühen. Dann sehe ich auf einem Monitor, wie plötzlich meine Kopfadern aufleuchten. Während 2 bis 3 Sekunden lässt das Kontrastmittel die Blutgefäße rund um den Tumor, mit all seinen Verästelungen, bis ins kleinste Detail sichtbar werden. Wow! Das bin ich! Das ist in mir drin. Ich bin echt fasziniert. Es sieht aus wie ein Kunstwerk. Dann ist das Kontrastmittel auch schon abgeflossen und das Leuchten vorerst vorbei. Es ist total schräg, alles was gerade in mir passiert, auch selber auf dem Monitor sehen zu können.
Es werden Aufnahmen in verschiedene Richtungen gemacht. Um die Gefäße rund um den Tumor zu durchleuchten. Dazu wird der Katheter ein paar Mal etwas versetzt und dann erneut Kontrastmittel eingespritzt und wieder eine Aufnahme gemacht.
„Nun bekommen Sie zum letzten Mal Kontrastmittel gespritzt. Dieses Mal wird es eine Stelle am Hinterkopf durchfließen, wo auch der Gleichgewichtsnerv sitzt. Sie werden sich also fühlen wie auf einer Achterbahn. Aber halten Sie ganz still“, meint der Spezialist.
Yeah, einmal gratis Achterbahn fahren! Aber warst du schon mal auf einer Achterbahn ohne dich zu bewegen?
Es fühlt sich echt krass an. Ich habe das Gefühl, ich flutsche mitsamt der Liege hin und her. Mal mehr, mal weniger schnell, mal links, mal rechts. Das ist voll schräg, denn ich weiß ja, dass ich eigentlich ganz still und flach liege. Einmal habe ich sogar das Gefühl, das ganze Teil dreht sich inklusive mir um die eigene Achse. Der Europapark ist nichts dagegen. Ich muss mich extrem zusammenreißen um mich nicht zu bewegen. Und dann ist der Spuk auch schon vorbei. Der Katheter wird herausgezogen und das kleine Loch verarztet. Dann werde ich wieder hinauf in mein Zimmer geschoben. Genau, geschoben, denn in den nächsten sechs Stunden darf ich ja nicht aufstehen. Ja, nicht mal aufsitzen. In der Leiste, wo die Schleuse war, befindet sich nun ein Druckverband, damit eben dieses „kleine Loch“ so schnell wie möglich verheilt.
So im Bett durchs Spital geschoben zu werden ist echt komisch. Ich bin irgendwie verlegen und würde mich am liebsten verstecken. Hoffentlich erkennt mich niemand.
6. KAPITEL
Es kommt alles gut!
Je mehr ich mich meinem Zimmer nähere, desto mehr steigt mein Stimmungsbarometer. Geschafft! Die erste Hürde ist gemeistert. Ich bin extrem erleichtert und spüre so etwas wie eine Euphorie in mir hochsteigen. Es war zwar alles andere als lustig und hat verdammt weh getan aber ich habe es jetzt hinter mir. Ich spüre plötzlich eine unglaubliche Power in mir hochsteigen. Keine Ahnung woher die kommt! Sie wird immer stärker und ich weiß einfach: Alles kommt gut! Irgendwie wandeln sich die Angst vor Schmerzen, die Todesangst und die negativen Gedanken in positive Gefühle. Ich habe keinen blassen Schimmer was da gerade mit mir passiert! Es fühlt sich einfach unglaublich gut an. Der Druck ist weg. Ich habe das Gefühl, ich kann wieder durchatmen und ich weiß, alles wird gut ausgehen! Ich bin mir zu 100 % sicher. Warum? Keine Ahnung. Ich kann es mir nicht ansatzweise erklären. Ich weiß es einfach. Ich nehme jetzt einen Schritt nach dem anderen.
Sacha wartet in meinem Zimmer auf mich. Als ich ihn sehe, grinse ich ganz verlegen. Es ist für mich einfach eine komische Situation. So ans Bett gefesselt und hilflos zu sein.
Ich rufe meine Eltern an und erzähle, was alles passiert und was noch geplant ist. Ich bin immer noch in meinem Hoch. Nach dem Gefühlsschlamassel, in dem ich vorher gesteckt habe, kann man das jetzt wirklich als ein Hoch bezeichnen.
Ich merke, dass es ihnen nicht gut geht. Aber sie freuen sich, dass ich die Angiographie gut überstanden habe und scheinen etwas erleichtert zu sein.
Mir wird erst jetzt, da ich selber Mami bin, bewusst, welch eine Hölle es für sie gewesen sein muss. Und ich bewundere meine Eltern dafür, dass sie einfach meine Entscheidungen akzeptiert haben, dass ich Weihnachten bei meinem Freund anstatt bei ihnen verbracht habe oder auch, dass er mich ins Spital begleitet hat. Ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich an ihrer Stelle den Wunsch meines Kindes so gut hätte akzeptieren können. Es muss einer der schwierigsten Momente für sie gewesen sein mich so gehen zu lassen.
Ich höre die Sorge in ihrer Stimme.
Unsere Stimmung klafft im Moment unglaublich auseinander. Es kommt mir vor, als wären wir auf zwei verschiedenen Planeten.
Sie leiden extrem wegen mir und ich bekomme immer mehr positive Power. Ganz ehrlich, ich verstehe die Welt nicht mehr. Seit ich diese Angiographie hinter mir habe, fühle ich mich um 180 ° anders. „Was war da wohl in diesem Kontrastmittel drin, das sie mir reingespritzt haben?“, überlege ich schmunzelnd.
Eigentlich hat man ja immer die Vorstellung, dass die Familie einem Mut macht und den Rücken stärkt. Das hat meine Familie definitiv auch gemacht. Aber jetzt scheint sich die ganze Situation gedreht