Seltene Erde. Eva Raisig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Raisig
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783751800631
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Papiertüte mit Fettgebackenem. Das Kleingeld hat sich das Mütterchen mangels Taschen in zwei ordentlichen Stapeln in beide Ohrmuscheln geschichtet. Therese reicht ihr einen Schein, winkt dann hastig ab, als das Mütterchen Anstalten macht, nach den Münzen zu greifen. Danke, danke, es stimmt so, es stimmt so! Sie dreht sich wieder zum Fenster. Lenka sitzt mit dem Gesicht dicht an der Scheibe, ein pulsierender Nebelfleck am Glas.

       Auf dem Acker.

      Vom Feldweg blickt einer über den Acker. Rehe, Krähen, tief stehende Sonne. Was macht diese dürre Gestalt dort hinten? Selbst von hier aus lässt sich erkennen, dass ihr der Mantel zu groß ist, aber heute, er schaut an sich herunter, passt kaum je irgendwem ein Kleidungsstück. Sucht sie etwa Kohlrüben? Längst ist alles eingeholt, was einzuholen war. Er ist den Acker selbst ein ums andere Mal abgelaufen, da ist nichts mehr. Wohl eine der Streunerinnen, die vom Hunger aufs offene Feld getrieben werden. Er nimmt einen Schluck aus dem Kältetröster, verzieht das Gesicht. Elender Kartoffelsprit.

      Auf dem Feld tritt Lenchen gegen die gefrorene Erde, die sich kaum lockern lässt. Von Steckrüben keine Spur. Du meinst wohl Kohlrüben. Erst hatte sich die Oberin Momente lang ahnungslos gestellt, dann war ein Lächeln über ihr verhärmtes Gesicht gezogen: Wir sagen hier Kohlrübe. Aber den freien Nachmittag, bitte schön, den könne Lenchen selbstverständlich verbringen, wie sie möchte, auch auf dem Feld.

      Steckrüben, Kohlrüben, es lässt sich weder das eine noch das andere finden. Sie müsste graben, aber dazu ist es zu spät. Es friert seit Monaten. Lenchen tritt zu. Gelbrübe. Mit den nächsten Tritten: Runke, Pfotsche, Schlesische Ananas. Untererdkohlrabi. Schmalzrübe. Über die tauben Zehenspitzen setzen sich die Erschütterungen bis in die Unterschenkel fort. Kannenwruke. Eine reiche Sprache, hatte der Vater gesagt. In den südlichen Reichsgauen: Dotsche. Pommersche Südfrucht, hatte er gesagt und der Mutter um die Hüfte gegriffen. Eine reiche Sprache, ein reiches Land und jetzt sind nicht einmal Steckrüben übrig. Lenchen wendet gefrorene Erdbrocken, aber mehr als ein paar dürre gelbbraune Stängel ragen nicht heraus. Sie schleudert einen der Brocken vor sich auf den Acker, aber er macht nur ein dumpfes Geräusch, nicht einmal eine Kuhle bleibt zurück. Unversehrt liegt er da. Die Krähen hat die Bewegung aufgeschreckt. Als lose Wolke verschwinden sie über dem Waldstück hinter dem Säuglingsheim.

      Außen herum der Birkenhain, Felder, die nichts mehr hergeben, die Straße und ein schmaler Weg, der in den Ort führt, in dem sich ein ganzes Sammelsurium an Flüchtlingen eingefunden hat. Leer und doch unübersichtlich, kaum einer kennt sich hier aus. Die Eltern und die Schwester sind an der Hauptstraße im ersten Stock in einem halb möblierten Zimmer untergekommen. Das Säuglingsheim liegt am Rand des Orts. Fahles Licht am Morgen, fahles Licht am Abend. In all der Zeit eine beinah unveränderte Kulisse und trotzdem kommt man kaum mit. Rasante Zeiten, niemals Ruhe. Eben sitzt auf dem Barackengelände neben dem Heim noch die Jugend singend an den Lagerfeuern und plötzlich nehmen in dem lang gezogenen Speisesaal russische Soldaten ihr Abendessen aus Blechkellen entgegen. Ein beinah fliegender Wechsel. Ohne Zaudern ist auch der Bretterzaun zwischen Heim und Baracke, der Generationen junger Landreisender eine sichtbare Grenze zum Lebensraum der Schwesternschülerinnen gewesen war, von einer Handvoll russischer Rekruten mit wenigen kräftigen Tritten eingerissen und in den Holzöfen ihrer Stuben verheizt worden. Nur ein paar spärliche Birken sind geblieben und in der warmen Jahreszeit zwischen ihren schrundigen Stämmen die über viele Sommer hinweg unermüdlich gedüngten Brennnesseln, aber beides nicht Hindernis genug, als dass die Schwesternschülerinnen sich nicht Nacht um Nacht in ihren Zimmern einschließen würden, auch wenn die Oberin gewissenhaft um achtzehn Uhr die Hauptpforte absperrt und den Schlüssel zweimal herumdreht. Heutzutage weiß man nie. Tagsüber staksen drei Hühner hinter dem Haus, nachts sperrt sie der Hausmeister in den Keller. Lieber jeden Tag ein Ei als einmal Hühnerbrühe. Am Ende gibt es Karottenbrei, einen Tag um den anderen. Das Brot ist mit Hafer, Wasser und unbekannten Zutaten zu einem feuchten Fladen gestreckt, der unter der dünnen Schicht Margarine wegbröckelt. So viel zur Ausbackquote. Und das bisschen Hunger? Ich bitte dich, hatte die Oberin gesagt, als eine maulte. Da sind wir doch ganz anderes gewohnt. Ja, spür den Hunger. Spürst du ihn? Spürst du, dass das das Leben ist, das gelebt werden will? Nun, du Glückliche. Du bist offenbar noch nicht tot. Sie grinste. Das kannst du dir merken: Es leidet nie das Volk. Es leidet immer nur der Einzelne. Und im wahrscheinlichsten Fall am eigenen Schicksal. Die andere hatte daraufhin nichts mehr gesagt.

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      Eine Steckrübe zumindest kann Lenchen auf dem Rückweg bei den Eltern und der Schwester im Ort abliefern. Eine kleine, die gerade dort, wo Lenchen auf das Feld getreten war, unberührt im Graben gelegen hatte. Im Frühherbst wohl von mittlerer Größe gewesen, dann in der Sonne geschrumpelt bis zum ersten Frost und auf die Gestalt, in der Lenchen sie findet und in den Beutel steckt. Den frühen Fund hatte sie als gutes Zeichen genommen. Jetzt sind die Zehen taub und die Finger steif. Sie merkt nicht einmal, dass ihre Nase läuft. Ein durchsichtiges Rinnsal in der Kuhle über der Lippe. Wenn sie tief einatmet, brennt es bis unter die Wangen. Sie schmeckt Salz und wischt sich mit der Hand über den Mund. Die Hand am Mantel ab. Heimweh, weil sie hier Kohlrübe sagen? Na, nu reiß dich mal bisschen zusammen.

      Die Sonne hängt jetzt unmittelbar über der Ackerlinie. Trockene Hecken, die Rehe hinten am Waldrand, in der Ferne die feinen Rauchfahnen über dem Ort, geruchlos wie alles in dieser Gegend. Der Sommer ist lang her, das andere Feld, das Dorf. Der Blick auch dort auf die Erde, klaubend durch vertrocknete Pflanzenreste bis zum Spätnachmittag. Ein ständiges Ziehen vom Hintern bis in die Schulterblätter und abends über den Nacken hinauf bis hinter die Ohren. Kinder, was für eine Plackerei. Aber immerhin am Ende des Tages die Körbe voll. Die Kleineren waren zwischen den Kartoffelfeuern umhergesprungen, morgens hatten die Rauchschwaden über den Feldern gewabert. An langen Stecken die Tüfften direkt in die Flammen, außen waren sie immer verkohlt und innen immer hart gewesen. Schwelende Krautreste. Abends die Kleidung wie geräuchert. An Gerüche kann man sich nicht erinnern.

      Es wird wohl noch Wochen weiterfrieren. Jahrhundertwinter, sagen sie schon jetzt, dabei ist ein Ende noch nicht abzusehen. Hungerwinter. Lange vorher die Kartoffelfeuer. Die Kartoffelkäfer. Perlenketten, die vom Himmel fielen. Wie schön es aussah, bis die Mutter sie wegriss. Eine vage Erinnerung, da war was. Was war da. So was kommt von so was, sagt die Oberin.

      Auf dem kahlen Feld bedeutet all das nichts. Der Vater liegt in der Wohnung. Die Wunde suppt und riecht übel.

      Lenchen steht auf dem eingefrorenen Acker und spürt die Erdbrocken, die sich durch die dünne Sohle der Schnürstiefel in die eisigen Füße drücken. Sie blickt noch einmal über die farblose Landschaft. Der untere Teil der Nachmittagssonne ist hinter dem Feldrand verschwunden. Im Heim wird die Oberin schon das Anheizen angeordnet haben. Vorher noch schnell zu den Eltern, zur Schwester, den frühen Fund abliefern. Die Augen wird Lenchen auf dem Weg offen halten, wer weiß. Ein letzter Tritt, aber nicht, weil sie noch irgendetwas erwarten würde von diesem Feld.

      Hinten am Weg steht einer und blickt in ihre Richtung. Diese lächerlichen Hochwasserhosen. Er ruft ihr etwas zu, aber Lenchen kann ihn nicht verstehen. Er fuchtelt mit beiden Armen. Vielleicht der Bauer. Sie wollte ohnehin gerade los.

       Fluchtreflexe.

      Und dann kommen sie an. Aus dem Nachbarort, in dem der Zug hält, nehmen sie den Bus und werden an Haltebucht vier des Busbahnhofs von den Hunden empfangen. Alle Ankommenden müssen von hier aus den gleichen Weg nehmen. Vom Busbahnhof aus in entgegengesetzte Richtung der Hinweisschilder unter das Promenadendach. An den Metallleitungen über der Straße hat sich ein Parasit festgesetzt, ein silbergrün schimmerndes Moos, das sich in der Horizontalen in alle Richtungen ausgebreitet hat, die ihm die Leitungen gewähren. An den Knotenpunkten der Leitungen ist das struppige Geflecht so dicht, dass es auf der Straße einen Flecken Schatten wirft. Einzelne Hunde dösen darin und folgen dabei dem Lauf der Sonne, ziehen erst nach und nach den Schwanz, eine Pfote ein, um im Schatten zu bleiben, dann stehen sie auf und lassen sich einige Zentimeter weiter nieder. Lenka immer ein paar Schritte voraus, Therese hinterher. Auf der einzigen überdachten Einkaufsstraße