Kinder erkunden die lokale Baukultur (E-Book). Noëlle von Wyl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Noëlle von Wyl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035519723
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(D-EDK, 2016b, S. 3).

      Baukulturelle Bildung als bildungspolitische Aufgabe hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Seit der Jahrtausendwende wurden in europäischen Ländern wie England, Frankreich, Deutschland und Österreich Studien zur Förderung dieses Bildungsbereichs durchgeführt. Dennoch wird baukulturelle Bildung im Forschungszusammenhang zu wenig diskutiert (Million, Heinrich & Coelen, 2016). Angela Million und ihr Team kamen im Rahmen einer Untersuchung von mehreren baukulturellen Projekten im städtischen Umfeld und Interviews mit Kindern und Jugendlichen von acht bis 18 Jahren zum Schluss, dass die Diskussion über eine allgemeinbildende Baukultur notwendig sei, um junge Menschen für Stadtplanungsprozesse interessieren zu können. Die Forderung mündet in Umsetzungsvorschlägen wie «vielfältige Settings baukultureller Bildung kultivieren», «baukulturelle Bildung in der Schule verankern», den «gesamten (Stadt-)Raum als Bildungsraum nutzen», «familiäres Lernen berücksichtigen», «Zugänge über Materialien und Werkzeuge eröffnen», «digitale Lernwelten erschliessen», «baukulturelle Bildung mit Beteiligung verbinden», «Anleiterinnen weiterqualifizieren» (d. h. Weiterbildungsangebote für Lehrpersonen und weitere Interessierte) oder «baukulturelle Bildungsangebote politisch fördern» (Million et al., 2019, S. 209 ff.). Insgesamt definiert die Studie vielseitige Handlungsfelder, die auch für andere Länder von Bedeutung sind.

      Mit ihrer an der Natur orientierten Architektur und organischen Formensprache haben die Architekten Eliel Sarinnen (1873–1950) und Alvar Aalto (1898–1976) wesentlich zur finnischen Identität und dem damit verbundenen hohen Stellenwert der baukulturellen Qualität beigetragen. «Der Schlüssel zum Architekturverständnis», so zitiert Turit Fröbe aus dem architekturpolitischen Programm, «liegt vorrangig bei der Kunsterziehung sowie bei den umweltbezogenen Fächern, die die Belange der gebauten Umwelt einbeziehen» (ebd., S. 45). Die Architekturhistorikerin untersuchte 2018 im Rahmen einer Feldstudie an der Universität der Künste in Berlin die Auswirkungen der architekturpolitischen Massnahmen von 1998 in finnischen Bildungsinstitutionen beziehungsweise inwiefern diese Form der «Architecture Education» für andere Länder wegweisend sein könnte. Fröbe stellte fest, dass baukulturelle Bildung – nach einer anfänglichen Euphorie vor gut 20 Jahren – heute in den öffentlichen Schulen nicht mehr gelehrt wird als anderswo in Europa. Obgleich es in Finnland diese Programme gab, wurde offensichtlich zu wenig in die Koordination der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen investiert. Ein Problem besteht auch in der «Streichung des obligatorischen Architekturkurses», der im Rahmen des Kunstunterrichts in der Klassenstufe 1–7 stattgefunden hat (ebd., S. 65). Fröbe hält fest, «dass der Architekturunterricht an den Schulen auch aufgrund des Mangels an Lehrmitteln unzureichend sei» und kommt zum Schluss, schulische Projekte bedürften in der Vermittlung «einer gewissen Sinnlichkeit […], damit sie nicht abschreckend wirken» (ebd., S. 45). Deshalb empfiehlt sie baukulturelle Bildung für die Lehrenden «einfach» zu machen, weil Lehrpersonen sonst baukulturelle Inhalte nicht unterrichten würden (ebd., S. 156). Auf strategischer Ebene sollen darüber hinaus, «baukulturelle Leitlinien» entwickelt werden, die als «zentrale Bestandteile von Kunst und Kultur» gelten (ebd., S. 177). Es müsse ein Netzwerk aufgebaut werden beziehungsweise «es bedarf Akteurinnen und Akteure nach dem Vorbild des finnischen Special Advisors for Architecture im National Council for Architecture, welche die architekturpolitischen Massnahmen kommunizieren und als Ansprechpartnerinnen und -partner sowie Beraterinnen und Berater fungieren» (ebd., S. 67). Eine Implementierung der Vermittlung von Baukultur in den Schulen brauche zudem – etwa alle drei oder vier Jahre – einen Evaluationsprozess, um die Leitlinien einer regelmässigen Revision zu unterziehen (ebd., S. 178).

      Der Verein Archijeunes fördert und koordiniert die baukulturelle Bildung in der Schweiz. Wie anfangs erwähnt hat er eine Analyse zum Bestand und Bedarf der baukulturellen Bildung in der Schweiz in Auftrag gegeben, um den Stand und die Bedürfnislage von Lehrerinnen und Lehrern an Schweizer Schulen zu ermitteln (Archijeunes, 2019). Insgesamt wurden 59 Dozierende an pädagogischen Hochschulen, 21 Lehrpersonen und 100 Schülerinnen und Schüler interviewt. Obwohl Baukultur nicht explizit unterrichtet wird, erkennen die Befragten bezüglich der Lerninhalte in bestimmten Fachbereichen Übereinstimmungen mit baukulturellen Inhalten. Diese betreffen insbesondere die Fähigkeiten zur Raumwahrnehmung, die Vorstellungsbildung, die Vermittlung von Strategien zur Entwicklung von Ideen, Entwurfstechniken und Ablauf von Gestaltungsprozessen (BG) sowie Fragen der Raumnutzung und Raumveränderung, Kartografie, menschliche Lebensräume und Lebensweisen, Kultur- und Siedlungsgeschichte (NMG), Konstruktion, Statik, Bauen und Wohnen sowie Handwerk und Verfahrenstechniken (TTG) (ebd., S. 45ff.). Ergebnis der Studie sind Empfehlungen zu folgenden Handlungsfeldern:

      1Sensibilisierung für baukulturelle Bildung

      2systemische Verankerung an Schweizer Schulen

      3Kommunikation

      4Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen

      5Forschung und Entwicklung

      6Entwicklung von Unterrichtsmaterialien und Lehrmitteln

      7Schulraum und Partizipation

      8Rahmenbedingungen (ebd., S. 23ff.)

      Zusammenfassend lassen die erwähnten Studien den Schluss zu, dass bis heute, zumindest in den genannten Ländern, geeignete, an die bildungspolitischen Gegebenheiten anschlussfähige Unterrichtskonzepte fehlen.

      Die Autorinnen der vorliegenden Publikation haben sich zum Ziel gesetzt, auf die Bedürfnislage an Schweizer Schulen zu reagieren und für Lehrerinnen und Lehrer ein stufen- und fächerübergreifendes Unterrichtskonzept für baukulturelle Bildung zu entwickeln, das eine Unterrichtsstruktur und ein Kompetenzmodell beinhaltet. Nachfolgend soll dargestellt werden, welche Aspekte der oben genannten Handlungsfelder der Studie zu «Bestand und Bedarf» berücksichtigt werden konnten (Archijeunes, 2019).

      Verankerung der baukulturellen Lerninhalte

      Lehrerinnen und Lehrer weisen auf die Notwendigkeit eines zirkulären Aufbaus der baukulturellen Bildung hin und betonen die «Wichtigkeit einer altersgerechten Auseinandersetzung» mit der Thematik. Die Lehrpersonen geben an, einige Lerninhalte seien mit den nationalen Bildungsstandards kongruent. Sie vertreten die Ansicht, die Ziele könnten über die «Bildung für Nachhaltige Entwicklung» (BNE) beziehungsweise «Natürliche Umwelt und Ressourcen» in die Modullehrpläne eingearbeitet werden (Archijeunes, 2019, S. 23).

      Weil es bisher an einer klaren Definition der Inhalte und Ziele baukultureller Bildung fehlte, war es in der Praxis offensichtlich zu aufwändig, baukulturellen Unterricht zu planen und zu vermitteln. Unumgänglich ist deshalb der Aufbau eines Wissenskorpus, das heisst die Definition des Fachwissens beziehungsweise die Entwicklung eines in Theorie und Praxis begründeten Kompetenzmodells. Der Verein Archijeunes hat mit seiner Publikation «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» dazu beigetragen, Pädagogen und Pädagoginnen eine erste Gesamtsicht baukultureller Bildungsinhalte zu verschaffen (Archijeunes, 2021).

      Im Rahmen des Projekts «Schuldetektive – Kinder erkunden die lokale Baukultur» wurde nun ein kompetenzorientiertes Unterrichtskonzept für Lehrerinnen und Lehrer der Grundschule entworfen. Das Konzept greift die von Lehrpersonen in der Studie gewünschte Form des interdisziplinären das heisst fächerübergreifenden Unterrichts auf und formuliert acht Hauptthemen (siehe Kapitel 2.2). Entlang dieser Themenbereiche kann das baukulturelle Wissen und Können im Sinne eines allgemeinbildenden Basiswissens aufgebaut beziehungsweise vermittelt werden. Auf eine stufenorientierte Unterteilung der Kompetenzstruktur wurde vorerst verzichtet. Die baukulturellen Lernziele lassen sich im Lehrplan 21 fächerübergreifend verorten. Aspekte der baukulturellen Bildung sind kompatibel mit den BNE-Zielen der Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft.

      Entwicklung von Unterrichtsmaterialien und Lehrmitteln

      Lehrerinnen