1.2 Bewusstseinsbildung für die Umweltgestaltung
Baukultur umgibt uns und entsteht jeden Tag neu; sie umschliesst «die Summe der menschlichen Tätigkeiten, welche die gebaute Umwelt verändern», so die Erklärung von Davos (FDHA/FOC, 2018, S.
Baukulturelle Bildung als Allgemeinbildung erfordert eine Erklärung der Begriffe und den Aufbau eines fächerübergreifenden Verständnisses. Es erstaunt nicht, dass selbst der Begriff «Baukultur» für Lehrpersonen wenig fassbar ist, wie das Projektteam während der Durchführung feststellte. Auch Elisabeth Gaus-Hegner und ihr Team hielten in ihrer Studie 2019 zu Bestand und Bedarf der Baukulturellen Bildung an Schweizer Schulen fest: «Baukultur wird von Lehrpersonen und Dozierenden als wenig geläufiger und dehnbarer Begriff wahrgenommen» (Archijeunes, 2019, Vorwort). Es handelt sich um einen Ausdruck, der in unserem Sprachraum ausser in Fachkreisen der Architektur selten verwendet wird. Kinder verstehen ihn, wenn ihnen Baukultur als zusammengesetztes Wort von Bauen und Kultur erklärt wird. Wie der Begriff «Baukultur» in der Architektur definiert wird, zeigt die Erklärung von Davos: «Baukultur umfasst den gesamten Baubestand, einschliesslich Denkmälern und anderer Elemente des Kulturerbes, sowie die Planung und Gestaltung von zeitgenössischen Gebäuden, Infrastrukturen, vom öffentlichen Raum und von Landschaften» (BAK, 2018, S. 17). Der Begriff umfasst somit nahezu alle Bereiche der gebauten Umwelt.
Baukultur reicht also über die Wirkungsfelder von Architektur und Denkmalschutz hinaus, zielt auf öffentliche und private Bauten, Räume und Landschaften und auf baukulturelle Prozesse. Darüber hinaus strebt das Manifest für eine «hohe Baukultur» die Mitwirkung aller am jeweiligen Ort lebenden Menschen an. Das Qualitätskonzept, das im Nachgang zur Erklärung von Davos vom Bundesamt für Kultur verfasst wurde, präzisiert: «Ein spezifischer Genius Loci entsteht durch das soziale Gefüge, die Geschichte, Erinnerungen, Farben und Gerüche eines Ortes, die seine Identität und die Verbundenheit der Menschen mit ihm bestimmen» (BAK, 2021, S. 4). Die Authentizität eines Ortes entsteht also nicht nur durch die Bauten, sondern auch durch die Menschen, die eine gebaute Umwelt beleben und damit täglich verändern. Die Einladung für ein baukulturelles Engagement richtet sich damit nicht nur an Baufachleute; vielmehr braucht es dazu alle Bürgerinnen und Bürger, wie es bereits die damalige Bundeskanzlerin Annemarie Huber-Hotz (2007) anlässlich einer Eröffnungsansprache für einen Jugendwettbewerb formulierte. «Lebensraumgestaltung fängt im Kleinen an», sagte sie und führte aus: «[…] im Haus, in dem wir wohnen und arbeiten; in der Strasse vor dem Haus; auf dem Weg zur Schule, den wir mit dem Velo oder dem Bus zurücklegen; im Dorf oder im städtischen Quartierzentrum, wo wir uns einen Platz zum Begegnen wünschen».[5]
Baukulturelle Bildung bereichert die Fächer des Bildnerischen und Technischen Gestaltens mit dem Aspekt der Umweltgestaltung. Die Thematik schafft neue Möglichkeiten für schulische Projekte, fördert die Partizipation in der eigenen Wohngemeinde und befähigt Schüler und Schülerinnen zur Teilhabe an Veränderungsprozessen. Doch ein Interesse für die gebaute Umwelt ist keine Selbstverständlichkeit. Es nimmt seinen Anfang im Kindesalter mit der Wahrnehmung und Aneignung des unmittelbar vorhandenen Lebensraums. Raumeindrücke werden erfahren und Räume erkundet, befragt und verglichen. Kinder entwickeln Vorstellungen und Assoziationen und bewerten Räume emotional (vgl. Buether, 2010, S. 47). Sie entwickeln eine «räumlich visuelle Kompetenz» und setzen diese «im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess» ein, sei es im Innen- oder Aussenraum (ebd., S. 261). Kinder und Jugendliche entwickeln Fähigkeiten, um gemeinschaftliche Raumprojekte zu initiieren; ihr Interesse für das Bauen reicht von der Herstellung von Laub- und Baumhütten[6] bis hin zur Teilhabe an städtischen Entwicklungsprojekten. Diese Interessen werden in Schulen, Freizeit und Ferienangeboten seit jeher berücksichtigt. Pädagogische Hochschulen im In- und Ausland haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, baukulturelle Bildung in ihr Lehrangebot aufzunehmen. Auch im Architekturstudium setzen sich Studierende vermehrt mit den ethischen Dimensionen ihres Fachbereichs auseinander. Die Technische Universität München TU beispielsweise zeigte der Öffentlichkeit in der Architekturausstellung Experience in Action! (2020) eine Auswahl an Partizipationsprojekten. Wie Hilde Strobl in der Projektdokumentation titelt: «Architektur ist zu wichtig, um sie den Architekten und Architektinnen zu überlassen» (Strobl in Bader & Lepik, 2020, S. 31). Eine umfassende baukulturelle Bildung für alle setzt somit eine sich kontinuierlich aufbauende Auseinandersetzung mit Raumeigenschaften, -beschaffenheiten und -wirkungen auf allen Ausbildungsstufen voraus.
1.3 Problematik und Ziele
Bis anhin haben sich vor allem ausserschulische Organisationen für die baukulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen engagiert. Sie haben das Potenzial und die Notwendigkeit erkannt und bieten unterschiedliche Kurse an, wie zum Beispiel das LABforKids – Labor für Baukultur[7] im schweizerischen Zug. Da eine solche Förderung im informellen, das heisst im ausserschulischen Bereich nicht allen Kindern und Jugendlichen zukommt, setzt sich Archijeunes
Elisabeth Gaus-Hegner und ihr Team befragten in dieser Studie Dozierende, Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schüler zu Bestand und Bedarf bezüglich baukultureller Bildung in der Schweiz. Gegenüber der Idee, «neue Elemente in den Lehrplan zu integrieren» beziehungsweise neue Inhalte vermitteln zu müssen, äusserten Lehrerinnen und Lehrer insgesamt eher Bedenken (Archijeunes, 2019, S. 16). Als Begründung hielten sie fest, es seien nicht ausreichend Anknüpfungspunkte