Kinder erkunden die lokale Baukultur (E-Book). Noëlle von Wyl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Noëlle von Wyl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783035519723
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diskutiert werden, es kann mit anderen vor Ort oder an entlegenen Orten, zeitnah und «zeitfern» vorhandenen Gebäuden, Architekten, Vorstellungsweisen in seiner Erscheinungsweise vergleichend betrachtet werden (betrifft die Dimension Wahrnehmung), es kann im Sinne seiner sozialen Bedeutung, Anerkennung und Werthaftigkeit beurteilt werden (Aspekte Gemeinsinn und Kommunikation), es kann auf unerwartete Weise in einen Diskussionskontext gestellt und thematisiert werden (Imagination). Immer aber geht es beim Bildungsgedanken darum, die Bedeutung des betrachteten Gegenstandes für das menschliche Leben und Zusammenleben selbst zu beschreiben, zu deuten und kritisch zu betrachten (Reichenbach, 2021).

      «Kinder erkunden die lokale Baukultur» ist meines Erachtens ein schöner Titel für die Studie, die die Autorinnen Noëlle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz hier nun in Buchfassung vorlegen. Die Erkundung passt in zweierlei Hinsicht, sowohl in ihrer physischen als auch ihrer symbolischen Bedeutung. So kann ein Gelände ausgekundschaftet werden. Allein der Schulweg macht das Kind ortskundig, da gibt es vieles zu sehen und noch viel mehr zu verstehen. Es lernt auch Umwege und Abkürzungen zu nehmen, das gehört zur kindlichen Freiheit. Aber um zu verstehen, muss es mehr als nur sehen können, die Dinge zeigen sich meist nicht von selbst. Man muss sich von anderen auch etwas zeigen lassen, was nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Zum Glück ist die Bereitschaft des Kindes, sich etwas zeigen zu lassen, sehr ausgeprägt, eine gute Einrichtung der Natur. Es ist auf Verstehen angelegt und auf Mitteilung, zum kindlichen Realismus gehört das Wissenwollen. Kinder wollen in der Regel nicht in einer individuell-subjektiven Bubble verschwinden, sondern wissen, wie es ist, und dazugehören. Davon handelt Bildung: mit der Wirklichkeit in Kontakt kommen und sich zu ihr verhalten können. Durch baukulturelles Wissen erhält die wahrgenommene Um- und Lebenswelt des Kindes – wie auch der Erwachsenen – Bedeutung. Verstehen verleiht dem Wissen Sinn, meinte Hannah Arendt. Dazu ist aber mitunter eine bestimmte Systematik nötig, Zugangsweisen sollen bewusst ermöglicht und unterstützt werden. Die Autorinnen ordnen ihren Zugang zur baukulturellen Bildung nach elementaren Phänomenen: nach Farbe und Form, Material und Oberfläche, Massstab und Dimension, Licht und Schatten, Öffnung und Transparenz, Innen und Aussen, Schmuck und Ornament, Statik und Konstruktion. Die wahrnehmbaren und wahrgenommenen Phänomene bilden immer den Ausgangspunkt, und durch Wissen (z. B. die Kunde über Material) werden die Phänomene interessant und erhalten Bedeutung. Verstehen ist die Leistung, Phänomene und Wissen in einen Zusammenhang zu bringen – diese Synthese- und Integrationsarbeit ist beim kleinen Kind wie auch beim Erwachsenen nicht von grundverschiedener, sondern von gleicher Art. Mit der Zeit lernt der baukulturell interessierte Mensch auch sehr vieles über die vielfältigen Zusammenhänge von gebauter Welt zur Natur-Natur und zur Natur des Menschen kennen. Macht man seine kleinen Erkundungen in der Stadt oder auf dem Land, hat man nicht immer den Eindruck, dass sehr viel daran gedacht wird, wie Häuser gebaut sein sollten, damit sich die Menschen in ihnen auch wohl fühlen.

      Wenn die Schulkinder nun – angeleitet soweit wie nötig und wichtig – ihre Erkundungen beispielsweise zu «Licht und Schatten» machen, so betreten sie unmerklich ein nahezu unerschöpfliches Universum, das weiter reicht als vom Baum als Schattenspender zur globalen Lichtverschmutzung und ihren bizarren Konsequenzen für Mensch und Tier oder von der Geschichte der Feuerstelle bis zur Nutzung von Solarenergie … Vielleicht werden manche von ihnen später verstehen, warum die «Aufklärung» so und nicht anders heisst, oder hinterfragen, ob das Mittelalter wirklich so «dunkel» war. Natürlich werden sie zunächst nur einzelne, konkret-gegenständliche Aspekte der Baukultur verstehen. Doch ohne solche Anfänge wird die gebaute Welt, die uns umgibt und in der wir leben, die uns im Guten wie im Schlechten prägt und die immer auch ein markanter Ausdruck der sozialen Verhältnisse darstellt, vielleicht nie wirklich wahrgenommen. Das wäre unaufgeklärt.

      Es ist ein grosses Verdienst der Autorinnen, sich dem bis heute vernachlässigten Bildungsbereich der Baukultur auf didaktisch und pädagogisch überzeugende Weise angenommen zu haben. Dem Buch von Nöelle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz wünsche ich daher die Aufmerksamkeit und Würdigung, die es ganz sicher verdient!

      Literatur

      Arendt, H. (1996). Vita activa oder vom tätigen Leben. München: Piper (Original «The Human Condition», 1958).

      Berger, J. (2016). Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Frankfurt a. M: Fischer (Original «Ways of Seeing», 1972).

      Gauchet, M. (1985). L’école à l’école d’elle-même. In M. Gauchet (Hrsg.), La démocratie contre elle-même (S. 109–169). Paris: Collection Tel.

      Reichenbach, R. (2021). Baukulturelle Allgemeinbildung. Eine bildungstheoretische Annäherung. In Archijeunes (Hrsg.), Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung (S. 51–70). Zürich: Park Books.

      Seock Jae, Y. (2005). The Traditional Space. A Study of Korean Architecture. Seoul: Ewha Womans University Press.

      Taylor, C. (1985). Self-interpreting animals. In ders., Philosophical Papers, Bd. I: Human Agency and Language (S. 45–76). Cambridge: Cambridge University Press.

Kapitel1.Projektbeschreibung

      Diese Publikation dokumentiert die Ergebnisse des Projekts «Schuldetektive – Kinder erkunden die lokale Baukultur»[2] und stellt Lehrerinnen und Lehrern ein Unterrichtskonzept mit Beispielen zur Verfügung, das baukulturelle Bildung an öffentlichen Schulen der deutschsprachigen Schweiz ermöglicht. Die Publikation ist zunächst eine Antwort auf die Analyse zum Bestand und Bedarf der baukulturellen Bildung an Schweizer Schulen, die von Elisabeth Gaus-Hegner und ihrem Team unter dem Patronat des schweizerischen Vereins Archijeunes für das Bundesamt für Kultur erarbeitet wurde (Archijeunes, 2019). Sie erfüllt des Weiteren besonders den von Lehrpersonen geäusserten Bedarf an Unterrichtsmaterialien und Lehrmitteln für diesen Bildungsbereich (ebd., S. 27).

      Die Dringlichkeit der Unterrichtsmaterialien für die Vermittlung von Baukultur wurde durch die Erklärung von Davos (FDHA/FOC, 2018) wirksam kommuniziert, welche die Kulturministerinnen und -minister Europas anlässlich des Weltwirtschaftsforums im Jahre 2018 verabschiedet haben. Die Erklärung erinnert daran, dass «die Art, wie wir zusammenleben und uns als Gesellschaften entwickeln, grundlegend kulturell bedingt ist und daher die Gestaltung unseres Lebensraums in erster Linie ein kultureller Akt» ist (S. 16). Das Manifest mündet in der Aufforderung, in den Bereichen der Bildung Verantwortung zu übernehmen, damit «Baukultur besser beurteilt werden kann» (ebd., S. 19). Die hier dokumentierte Unterrichtsforschung schliesst daran an. Sie wurde von der Pädagogischen Hochschule Schwyz PHSZ im Rahmen der Initiative «Kulturerbe für alle»[3] durchgeführt und erfolgte in Kooperation mit der Bildschule K’werk Zug.[4]

      Ziel des Projekts war die Entwicklung und Evaluation eines kompetenzorientierten und fächerübergreifenden Unterrichtskonzepts für baukulturelle Vermittlung an öffentlichen Schulen der Schweiz, das Lehrerinnen und Lehrern als Orientierungshilfe dienen soll. Die in dieser Publikation präsentierten Lernarrangements mit Unterrichtssequenzen sind erprobt, ausgewertet und mit Bildern dokumentiert. Sie sind an die ortsspezifische Architektur gebunden sowie an organisatorische Bedingungen von Schulen und Lehrpersonen geknüpft und berücksichtigen inhaltlich die Interessen von Schülerinnen und Schülern. Ausgangspunkt für die Erarbeitung von Unterrichtsbeispielen für baukulturelle Bildung waren die Erkundungen der Schülerinnen und Schüler in ihrer Wohngemeinde. Die Durchführungen der Unterrichtseinheiten sind ausführlich beschrieben und mit Bildern visualisiert, sodass sie nachvollzogen werden können und Lehrerinnen und Lehrern als Anregung für die Planung von baukulturellem Unterricht dienen. Das Unterrichtskonzept veranschaulicht gleichzeitig ein kompetenzorientiertes Strukturmodell mit acht baukulturellen Themen und beschreibt damit, was und auf welche Weise in der Volksschule innerhalb des vorhandenen Fächerkanons unterrichtet werden kann. Die Auswertung der Durchführungen zeigt, wie Schülerinnen und Schüler den Unterricht erlebt haben. Entstanden ist ein Unterrichtskonzept zur Vermittlung von Baukultur für den Einsatz in den Fachbereichen des Textilen und Technischen sowie des Bildnerischen Gestaltens (D-EDK, 2016a) mit interdisziplinären Bezügen insbesondere zu den Raumthematiken des Fachbereichs Natur, Mensch, Gesellschaft