Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johann Gottfried Herder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066398903
Скачать книгу
Schilderung mit solchen ausgemalten Nebenzügen überladen – beinahe ein untrügliches Wahrzeichen, daß der Dichter nach der Hand eines andern gearbeitet, daß er nicht aus dem Feuer seiner Phantasie geschrieben. Wäre dies, wie würde er sich so lange bei ihrem Heranplätschern, und noch länger bei ihren Ringen und Schlingen aufhalten? Diese sind ihm das Hauptaugenmerk: sie kommen ihm immer von neuem ins Gesicht, und er schaudert nie mehr, als wenn er an diese unermäßliche Windungen, und Umschlingungen und Stellungen denkt. Virgil muß nachgeahmet haben; entweder nun einem Kunstwerke, oder welches mich wahrscheinlicher dünkt, dem Gemälde Homers. Das hat von jeher den Nachahmer verrathen, wenn er mit gar zu künstlicher Hand klecket, und Nebendinge am sorgfältigsten vollendet. Eben daher wage ichs, zu sagen, daß Virgils Schilderung mehr das Ohr füllet, als die Seele. Mit allem Vorplätschern der Schlangen thut sie nichts, als uns zerstreuen und betäuben: mit allen Windungen derselben um Laokoon, die hier so genau angezeigt werden, wird unser Auge vom Laokoon auf die Schlangen gewandt: wir vergessen, auf sein Gesicht zu merken, und auf die Seele, die in demselben spreche: endlich zeiget sich dieselbe – aber durch ein wüstes Geschrei, durch das Brüllen eines verwundeten Stiers, der vom Altar entlaufen:

       clamores horrendos ad sidera tollit – –

      Was würde hieraus folgen? Dies, daß wenn Virgil nach Homer gearbeitet, er immer seine Geschichte, er habe sie aus Pisander, Euphormio, Sophokles geschöpft, nach seiner Art verändert habe, und daß also der Künstler neben ihm aus eben dieser Quelle habe schöpfen, und doch in der Vorstellung von ihm abgehen können, wenn er auch bloß dem Griechischen Buchstaben gefolget wäre.

      Gesetzt also, er hätte den verlohrnen Laokoon des Sophokles vor sich gehabt: welche Idee hätte ihm die Sophokleische Muse geben müssen? Sophokles, ein so weiser Dichter des Theaters, der zuerst auf demselben gleichsam Sittlichkeit und Anstand vestsetzte, der hierinn vielleicht einzig und allein das rechte Maas traf; Sophokles, der bei seinem Philoktet die Leiden des Körpers so sehr in Leiden der Seele zu verwandeln wuste – wie wird er seinen Laokoon geschildert haben? Mit dem Hauptzuge des gräßlichen Geschreies? Ein vortrefliches Mittel, das Trommelfell des Ohres, aber nicht unser Herz, zu rühren. Gewiß wird er bessere Wege an unser Herz gesucht, und also auch Laokoons Schmerzen und Geschrei mit der Waage des Richterischen Genies zugewogen, mit der er sie dem Philoktet zuwiegt. Nun lasset einen weisen Griechischen Künstler von einem weisen Griechischen Dichter diesen Gegenstand geborgt: lasset ihn die Manier des Theatralischen Gemäldes genutzt, und von Sophokles Laokoon so gelernt haben, als Timanthes vom Euripides die weise Verhüllung Agamemnons lernte: so dünkt mich, ich sähe die Waage des Ausdrucks eben auf dem Punkt, auf dem sie bei dem Laokoon des Künstlers schwebet. Das Maas des Seufzers ist ihm zugewogen. »Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andre Theile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezognen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte, und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singt; die Oeffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgetheilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.« Ich kenne nichts würdigers, als diese Worte, und der Römische Dichter, der Nachahmer Homers, kommt also gar nicht ins Spiel.

      Ich sehe, daß ich bisher bloß in kritischen Materien, aufgeräumt habe, die Hr. L. seinem Laokoon hat zum Grunde legen wollen, füglich aber auch dem Hauptinhalt seines Buchs unbeschadet, hätte auslassen können. Es ist Zeit, meine Leser aus dem Mischen Schutte hinweg, zu diesem Hauptinhalte selbst näher hinan zu führen, und –