Mit langem Atem zum großen Glück. Gabriele Klink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Klink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783991079255
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      Ihre Kinder halfen, das tägliche Überleben zu organisieren, sie versuchten sich als Schuhputzer, trugen auf ihrem Kinderrücken schwere Lasten vom Markt zu den Reichen nach Hause, wuschen für etwas Geld die Autos im quirlenden Straßenverkehr, sangen in den Bussen, bis sie rausgeschmissen wurden. Ohne diese Arbeitseinsätze ihrer Kinder wäre eine Existenzsicherung nicht möglich gewesen.

      An diesem Tag durchforsteten ihre Kinder die Müllhalden der Stadt, um Abfall zu sammeln, den man dann verkaufen könnte. Ein Leben auf den stinkenden, schwelenden Müllbergen. Tausenden von Kindern in Lima ergeht es so.

      In dieser Nacht war Maxima Rosario noch unterwegs, sie war auf dem Weg nach Hause. Sie dachte an ihre Kinder und an das, was sich nun vehement regend unter ihren weiten, bunten Indioröcken verbarg und bewegte. Hoffentlich würde das Kind in dieser Nacht zur Welt kommen.

      Sie wusste, dass sie ihr Kind nicht auf dem Standesamt in Lima anmelden konnte, wie ihre anderen Kinder auch. Sie existierten amtlich nicht. Damit fielen auch keine Gebühren an und wenn eines der Kinder sterben würde, müsste man keine „Todesgebühren“ bezahlen.

      „Was soll ich bloß mit diesem Kind tun? Ich kann mich und die anderen Kinder kaum ernähren?“, murmelte sie verzweifelt vor sich hin.

      Eine Freundin, die auch als Empleada, als Hausmädchen bei den reichen „Gringos“, den Weißen arbeitete, hatte ihr zugeflüstert, sie solle im Armenhaus ihr Kind zur Welt bringen.

      Automatisch bog sie in die staubbedeckte, nächtliche Straße am Rande der Stadt ein und stand unvermittelt vor dem Armenkrankenhaus.

      Morgens um 4:15 Uhr schenkte sie einem kleinen Mädchen das Leben. Nach neun Monaten brachte sie ihr 3.210 Gramm schweres Kind zur Welt.

      Einen Namen erhielt das kleine Bündel Mensch nicht, es würde sowieso nicht überleben. Maxima Rosario hatte kaum Muttermilch, weder ein Bett noch ein warmer Raum war vorhanden. Draußen zeigte das Thermometer am Nachmittag ganze acht Grad plus an. Limawinter.

      Sie wusste, dass sie das Hospital nach der Entbindung innerhalb von vierundzwanzig Stunden verlassen musste. Im ersten Morgengrauen schlich sie sich vorzeitig heimlich davon und tauchte im Nebeldunst unter. Ohne ihr Kind.

      Das machen viele Indiofrauen, die vom Hochland in die Stadt kommen, um hier den Lebenskampf zu bestehen.

      Außerdem musste sie als Wäscherin früh am Morgen kurz nach Sonnenaufgang bei der Señora ihre Arbeit aufnehmen, wenn sie ihre Arbeitsstelle nicht aufs Spiel setzen wollte.

      Das kleine, verlassene und namenlose Wesen wurde in feste Tücher gewickelt und in einen Raum getragen, in dem auf langen einfachen Holzpritschen viele Neugeborene lagen.

      Lima am 27. Juni 1980 - Ein Kind erblickt das Licht der Welt

      Am anderen Tag kehrte Maxima Rosario ins Hospital zurück, drückte das kleine Bündel Mensch zärtlich an sich und kehrte mit ihm zurück in ihre Elendshütte. Dort legte sie ihr Kind in einen kleinen braunen Pappkarton. Es ist ihr Kind. Sie hat es unter Schmerzen zur Welt gebracht. Sie liebt dieses Kind, so wie jede Mutter der Welt ihr Neugeborenes liebt.

      Doch von Liebe allein kann das Baby nicht leben, das weiß sie ganz genau: Ohne Milch, liebevolle Pflege, ohne Kleidung, Wärme und Nahrung muss ihr Neugeborenes sterben. Sie hat diese entsetzliche Erfahrung schon einmal gemacht.

      Lima am 30. Juni 1980 - Überlebenskampf

      Tagsüber musste sie das Kind in der winzigen Hütte zurücklassen. Die Kleine wimmerte, weinte, schrie. Nach wenigen Tagen gab das Baby den Kampf um sein bisschen Leben auf. Es lag im Kot, ein Teefläschchen als Nahrung neben den winzig kleinen Händchen, die zu Fäusten geballt waren. Ab und zu sah eines der Geschwister nach ihm, doch sie waren damit beschäftigt, auf den stinkenden Abfallhalden mit Hacken und Stöcken oder den bloßen Händen Brauchbares herauszuholen.

      Dabei heißt es Heerscharen von Fliegen zu vertreiben, sich mit den kreisenden Geiern herumzuärgern und Stöcke oder Müll nach ihnen zu schleudern. Den streunenden, abgemagerten Hunden gilt es gute Fundstücke abzujagen, um schließlich das Beutestück in Tüten und Säcke zu stopfen. Am Ende des Tages werden die so gesammelten Reichtümer auf dem Rücken abtransportiert. Man wird versuchen, sie zu verkaufen. Noch verwertbare Lebensmittel schleppen die Kinder in ihre Behausung.

      Einen Namen hatte das Kind noch immer nicht. Kind heißt es nur: Nina, Mädchen. So braucht man es nicht anzumelden und die Ausstellung eines Totenscheines entfällt, denn beides kostet Geld. Geld, das Maxima nicht besitzt.

      Niemand weiß, wie viele Kinder das erleiden müssen. Es heißt nur: „Jedes dritte Kind hat die Chance zu überleben“. Geboren werden, um zu sterben.

      Etwa jeder zweite Peruaner ist ein Indianer, ein Drittel sind Mestizen, also Mischlinge aus Indianer und Weißen, und nur 12 % sind Weiße. In Armut leben etwa sechzig Prozent der Peruaner. Sie sind die Leidtragenden der verfehlten Politik, der Aufstände, des Mordens durch das Militär. Dem Reichtum weniger steht das Elend der Massen gegenüber. Vielen Indios bleibt nur noch Betteln oder Diebstahl offen und so schließen sie sich gewaltlosen Bewegungen an, um ihre Menschenrechte einzufordern.

      Frauen und Kinder sind die billigsten Arbeitskräfte und halten die Familien am Leben. Sie versorgen auf dem Lande die Tiere, schleppen Feuerholz und Wasser herbei, sind für die Ernte zuständig, laufen kilometerweit zum Markt, um ihre Waren feilzubieten und halten Haushalt und Kinder in Ordnung.

      Und der Mann? Zu viele fühlen sich als berechtigte Patriarchen und sind Machos. Ein echter Mann zeugt allzu oft zahlreiche Kinder und überlässt dann die Familie sich selbst.

      Um dem täglichen Überlebenskampf standzuhalten, wird die Droge Koka gekaut. Schmerzen, nicht behandelte Krankheiten und auch der Hunger werden so überlagert. Drogenhändler und Drogenmafia machen gute Geschäfte.

      Früher durften Indiokinder nicht die Schule besuchen, sondern wurden vom Staat bewusst als Analphabeten zu billigsten Hilfskräften herangezogen. Die Indios wurden enteignet, man nahm ihnen gutes Ackerland ab und gab ihnen schlechten Grund und Boden.

      Heute bietet Peru einen kostenfreien Schulbesuch und es besteht Schulpflicht vom 8. bis zum 14. Lebensjahr. In den Städten gibt es Kindergärten, auf sie bauen die Primarschule und dann die Sekundarschule mit Fachschule und Abitur auf.

      In den großen Städten sind etwa 11 Prozent noch Analphabeten, auf dem Land steigt dieser Anteil auf bis zu 70 Prozent.

      Kinder und Jugendliche müssen Geld verdienen, um der Familie das karge Überleben zu sichern. Reiche ermöglichen ihren Kindern teure Privatschulen und damit eine gute schulische Ausbildung und leider investiert der Staat in die Schulbildung für alle sehr wenig.

      Arme Kinder legen oft einen kilometerlangen Schulmarsch zurück, nach einem schweren Arbeitstag zu Hause. Und dennoch oder gerade deshalb wollen diese Kinder zur Schule gehen. Sie werden am ganz frühen Morgen und am späten Nachmittag bis in die Nacht hinein im Schichtbetrieb unterrichtet.

      Auf dem Land und in den großen Elendsvierteln um die Städte herum kümmert sich der Staat wenig um die Bildung seiner Kinder.

      Fast alle Peruaner sind katholisch. Die Indios sind sehr gläubig und haben aus der Inka- und Indianer-Zeit religiöse Sitten, Bräuche und Überlieferungen übernommen und in den christlichen Glauben eingebettet, sodass alles miteinander und ineinander verwoben ist.

      Viele christliche Feste fallen mit den alten Bräuchen zusammen und werden als ein großes Fest in der Gemeinde begangen.

      Das wichtigste Jahresfest zu Ehren des Sonnengottes „Inti Raymi“ fällt mit dem Fest des heiligen Johannes zusammen. An heiligen Wallfahrtsorten treffen sich Tausende von Menschen an einem bestimmten Tag. Dort sprechen sie mit Gott, musizieren, tanzen, feiern. Sie bringen symbolische Opfergaben und bitten ihre Götter um Erfüllung. Dabei nimmt die Pachamama, die Mutter Erde, das Spiegelbild zur Muttergottes ein.

      Priester nutzten den Indioglauben aus, die Menschen wurden ausgebeutet und gehorchten.