Seit drei Tagen lag die Vollmacht aus Lima auf dem Tisch. Wir hatten dieses unglaubliche Dokument hundert Mal gelesen. Endlich war der Notartermin. Dort mussten wir ein Schriftstück unterzeichnen, in dem wir dem Rechtsanwalt und Notar in Lima die Adoptionsvollmacht erteilten. Er konnte uns dann in allen rechtlichen Dingen auf den Ämtern in Lima vertreten und alle für eine Adoption benötigten Unterlagen und Urkunden vorlegen und einholen.
In einer Vollmacht, deren Wortlaut uns aus Lima vorgeschrieben ist, verpflichteten wir uns, ein Kind uneingeschränkt bei uns aufzunehmen sowie alle Kosten der Adoption zu übernehmen.
Siegfried als werdender Vater musste noch eine dritte Vollmacht unterzeichnen, in der er mich als seine Ehefrau ermächtigte, die Adoption in Peru persönlich durchzuführen, das Verfahren auch in seinem Namen in Lima abzuwickeln und mit dem adoptierten Kind nach Deutschland zurückzureisen.
Unser Schicksal war ein offener, geduldiger, versierter und hilfreicher Beamte, der Erste, den wir kennenlernten, der neugierig und positiv auf unser Adoptionsvorhaben reagierte. Beim Verlassen des Notariates wünschte er uns alles Glück der Welt.
Wir waren erleichtert und glücklich, wussten wir doch, dass wir die Hilfe des Notars noch öfters benötigen würden, wenn die Adoption in Peru erfolgreich abgeschlossen und ich mit unserem Kind in Deutschland zurück wäre. Dann erfolgte das zweite Adoptionsverfahren in Deutschland.
Ich fuhr mit dem Zug nach Stuttgart zur zugelassenen Übersetzungsstelle, damit anschließend das peruanische Konsulat alle Unterlagen über beglaubigen konnte.
Wir beschäftigten uns nun intensiv mit dem zukünftigen Heimatland Peru. Ich kannte Peru zwar durch Reisen von Chile aus, aber das lag über zehn Jahre zurück. Jetzt interessierten uns die sozialen und politisch aktuellen Gegebenheiten des Inkareiches weit mehr als seine grandiose Kultur.
Am 23. Juni 1980 - Kinder werden streunenden Hunden gleichgesetzt
Was wir in Zeitungsartikeln oder Zeitschriften lasen und was wir in den letzten Monaten an Informationen über die möglichen Adoptionsländer zusammen getragen hatten, machte uns sehr betroffen und auch zornig. Wir wurden darin bestärkt, dass wir mit einer Auslandsadoption den richtigen Schritt in die richtige Richtung täten.
Pressestimmen
„Verlassene und obdachlose Kinder werden wie streunende Hunde abgetan … Alle zwei Minuten stirbt ein Kind vor seinem ersten Geburtstag … Millionen von Kindern verkommen in Lateinamerika im Großstadtdschungel … Todesschwadron oder schießwütige Polizisten räumen die wie Pest herumlungernden Kinder, die wie „Schinken die Straße der Stadt verunreinigen“, auf … Die Parole: „Man muss aufräumen. Man muss sie ausrotten“, erschallt überall …
Wie streunende Hunde und Katzen werden die Kinder eingefangen, hinter Gitter gesteckt, zusammengepfercht mit Kriminellen, Zuhältern, Dealern oder Rauschgifthändlern. Diese richten dann die Kinder hinter Gittern für ihre Zwecke ab und bilden sie für die Bettelei, den Kurierdienst in der Drogenszene oder für Diebstähle und Raub an Passanten und in Geschäften aus …“
Kinderbanden betteln, ernähren sich aus den Abfalltonnen der Supermärkte, schlafen an irgendeiner Hausfront auf den Treppen. Die Jüngsten sind gerade einmal drei Jahre alt. Den Weg aus der grenzenlosen Armut findet eins von Hunderttausenden Kindern. Und die Welt schaut schweigend und uninteressiert einfach zu.
Situationsberichte wie es um diese Kinder steht
Kinder sind ohnmächtig, sie haben weder psychische, physische noch ökonomische Druckmittel, sie haben keine Gewerkschaft und keine Stimme. Es gibt viele Millionen Eltern, besonders Mütter, deren Kraft ihre Kinder zu schützen und für sie zu sorgen, durch Arbeits- und Besitzlosigkeit, Krankheit, Behinderung, Elend, Entkräftung, Hunger und Not ausgezehrt und vernichtet sind. Richtige Ernährung, sauberes Wasser, Hygiene, ärztliche Versorgung, Arbeit, ein Dach über dem Kopf und Lohn sind die Basis für Gesundheit und für ein Überleben.
Kinderkrankheiten wie Masern oder auch Durchfall werden zur tödlichen Gefahr für ein unterernährtes Kind. Alphabetisierung der Frauen, das Recht auf Schulbesuch, Familienplanung und die elementaren Bildungschancen fehlen.
Die Kindheit wird durch das wirtschaftliche Klima, durch Gewalt, Kriminalität, durch das Nichteingreifen des Staates, durch die bittere Armut und Obdachlosigkeit der Kinder genommen oder bedroht und oft haben diese Kinder keine Kindheit.
Sie wachsen in Slums auf, ohne Wasser, Strom oder die einfachsten hygienischen Voraussetzungen, ohne ärztliche Versorgung, ohne Schule.
Auf Müllhalden und von Müllhalden leben diese Menschen, trotz bestialischem Gestank. Nicht einmal die unzähligen Ratten überleben hier länger, sie ersticken an den austretenden Gasen. Straßenkinder aber wühlen nach Brauchbarem im Unrat. Hier vegetieren Menschen, Kinder ohne Hoffnung und Lebensperspektive. Dieses Wühlen im Müll ist lebensbedrohlich: Bronchitis, Hautausschläge, Darmerkrankungen sind die Folge. Medikamente sind unerschwinglicher Luxus. Um die täglichen Verletzungen, auf den Müllhalden entstanden, wickelt man einen schmutzigen Lappen, denn Wasser gibt es meist nicht oder nur stundenweise und es ist teuer. Ohne Geld ist auch das ein unbezahlbarer Luxusartikel.
Und zwei Jahre später
Was wir zwei Jahre später in einer anmutenden Anti-Adoptionskampagne in allen Zeitungen lasen, war unglaublich:
„Kinderhandel mit der Dritten Welt: Adoption auf Bestellung“ „Kinder in Lima für 12.000 Mark verkauft“ „Werden wohlhabende Leute kriminell, um ein Kind zu bekommen? Wissen die denn, was sie tun?“ Eine andere Zeitung schrieb: „Das ,kleine Schwarze‘ ist groß in Mode. Tausende kinderlose Ehepaare in Deutschland, Holland und Schweden kaufen sich Kinder in Asien oder Lateinamerika. Holländische Agenturen machen das große Geschäft mit organisierten Baby-Touren auf der Tropeninsel in Sri Lanka …“
Meine Sammlung dazu wuchs erschreckend und fühlte sich für uns auch wie eine persönliche Bedrohung an.
Zahlreiche Adoptiveltern reagierten in Leserbriefen darauf. Auch wir. Die Stuttgarter Nachrichten berichteten über das „Kinderkriegen als bürokratischer Akt“ und veröffentlichten meinen Leserbrief „Kinder aus der Dritten Welt“ am 11. Mai 1982.
Später würde in einem Bericht des Jugendamtes Esslingen zu lesen sein: … „Im Jahr 1983 wurden sechs Auslandsadoptionen und zwei Kinder an Pflegeeltern vermittelt. Diesen neun Adoptionen stehen 82 gemeldete adoptionswilligen Ehepaare gegenüber.“
Und wie reagierten unsere Freunde und Familien? Mit diesem Vorhaben wurden wir als leicht „verrückt“ abgestempelt. „Ausländer bei uns? Was wird später aus diesen Kindern? So Ausländer-freundlich ist Deutschland nun auch wieder nicht! Tolerant sind wir mit dem Mund, aber weniger mit unserem Herzen.“ Aber auch: „Wir begleiten und unterstützen euch auf diesem langen, schwierigen Weg und wünschen euch viel Glück, Kraft, Mut und Durchhaltevermögen. Ihr schafft das schon.“
Am 26. Juni 1980 - Im Land der Inkas
An diesem Tag begann die Geschichte eines winzigen Lebens, viele Tausend Kilometer von uns entfernt, in Südamerika, in Peru, im Land der Inka. Was an diesem und den folgenden Tagen und Wochen geschah, erfuhren wir später durch unseren Rechtsanwalt in Lima und die mich begleitende und betreuende Dolmetscherin.
Lima/Peru - am 26. Juni 1980
Eine Indiofrau, Maxima Rosario, ihr Alter wurde im Armenhospital mit 22 Jahren angegeben, sie kannte ihr genaues Geburtsdatum nicht. Hochschwanger machte sie sich in ihrer traditionellen, bunt gewebten Indiotracht, ihrem weit schwingenden Rock, ein bunt gewebtes Tuch über die Schulter gewunden, schweren und langsamen Schrittes, vorgebeugt unter der Last des Kindes, das auf die Welt drängte, auf den Weg ins Armenhospital in Lima. Dort würde sie einem Kind das Leben geben, für das sie nichts hatte. Nichts als die nackte