Das soziologische Moment
Wir berühren damit das menschlich grundlegende Problem der zwischenmenschlichen Beziehungen: Individuum und Gesellschaft, Persönlichkeit und Gemeinschaft, Einzelner und Masse. Es beinhaltet die Bindungen des Ichs zum Du, des Ichs zum Wir. Die soziologische Bedeutung und Aufgabe der Kosmetik für das Sichhineinfinden und für das Rückfinden des Einzelmenschen in die ihn umgebende menschliche Gemeinschaft ist somit ein wichtiges Thema. Es stellt sich deshalb die Frage, inwiefern die Kosmetik im Sinne dieser soziologischen Aufgabe wirksam sein kann.
Rituelle Urform
Es ist heute fast unbekannt, dass die ursprünglichste Bedeutung der Kosmetik eine kultisch-rituelle war. Die so genannten „Primitiven“ färbten sich Haare, Gesicht und Körper mit bestimmten Naturfarben in altüberlieferter Manier. Dies geschah aus einem urmagischen Empfinden, sich über das individuell Irdische dadurch erheben zu können, dass die Gleichartigkeit des sich Schmückens die Individualität aufheben könne, zugunsten einer meist in leidenschaftlicher Ekstase sich findenden Gemeinsamkeit aller. Von diesen Zusammenhängen hören wir heute nur selten. Aber im Unbewussten spielt dieses Einander-Gleichwerdenwollen, dieses gemeinsame, über das Alltägliche hinaus Sich-Erhebenwollen eine grundlegende Rolle auch oder sogar erst recht im modernen Leben mit seiner extremen Individualisierung.
Individuum und Gemeinschaft
Der Mensch als Einzelner strebt danach, sich selbst in seiner Individualität zu entfalten, zu entwickeln und sich darzuleben. Aber der Mensch ist ebenso sehr ein geselliges Wesen und somit auf das Zusammensein mit anderen Menschen lebensnotwendig angewiesen. Keiner von uns kann in der heutigen modernen Welt autark existieren. Das Leben eines Robinson ist lediglich eine interessante, sozial-psychologische Studie. Im Grund aber wollen wir nicht isoliert für uns allein im Leben stehen. Im Gegenteil: Das Problem des Alleinseinmüssens, der Einsamkeit der Einzelnen in der Masse wird häufig als eine Tragik der modernen Massengesellschaft empfunden. Der Geist der heutigen Zeit stellt ganz bewusst den Einzelmenschen in seiner Ichheit und seinem Ichbewusstsein heraus. Darin liegt aber die Gefahr, dass sich der Einzelne als ein in das Dasein geworfenes Wesen verlassen und isoliert, ganz auf sich allein gestellt empfindet und nunmehr aus einer Angst um die Erhaltung seines Ichs vor dem Leben, vor der Welt und den Menschen hinein in das Kollektiv flieht. Die extreme Herausstellung des Ichs als eines Individuums einsamer Einmaligkeit schlägt in ihr Gegenteil um: Aus Angst vor einem unerbittlich erscheinenden Schicksal rettet sich der Mensch in die Fänge der namenlosen Masse des „man“: Man sagt, man meint, man tut und man sagt mit, man meint mit, man tut mit! Ein ursprünglich erhebendes Gefühl der Gemeinschaft und der Gemeinsamkeit ist aus Angst um das eigene Ich zur Flucht in die Massenhaftigkeit geworden, in der es untergehen muss. Scheinbar ein Widerspruch in sich selbst, aber dennoch eine Tatsache. Wie konnte es zu einer derartigen Entwicklung kommen? Martin Buber macht in seinem Buch „Das Problem des Menschen“ einmal ein soziologisches und zum anderen ein seelengeschichtliches Moment dafür verantwortlich:
Zerfall gewachsener Gemeinschaften
Die alten organischen Formen des unmittelbaren wesenhaften Zusammenlebens der Menschen wie die Familie, die Sippe, die Werk- und Dorfgemeinschaft sind, beginnend mit der politischen Freimachung des Menschen, heute am Zerfallen. Diese lebendigen Gemeinschaftsformen boten dem Menschen eine äußere und eine innere Heimat für sein eigenes Leben, eine persönliche und soziologische Sicherheit der Welt und dem Schicksal gegenüber.
Moderne Zivilisation und der Mensch
Der zweite Faktor dieser Entwicklung besteht darin, dass der heutige Mensch in seiner seelischen und geistigen Entfaltung hinter seinen äußeren Werken zurückgeblieben ist. Die Technik, die Produktivität der Wirtschaft, die politische Organisation – ursprünglich erfunden, um dem Menschen zu dienen – haben sich heute zu anonymen Mächten verselbstständigt, welche ihrerseits nunmehr den Menschen beherrschen. Dadurch tritt der Gegensatz zwischen Mensch und Masse heute härter und bewusster als früher zutage. Es stellt sich deshalb die Frage nach der Lösbarkeit dieses Gegensatzes. Es ist weder das Extrem des heutigen Individualismus, welcher den Menschen nur in seiner Ichbezogenheit sieht, noch der Kollektivismus, welcher den Menschen als Persönlichkeit verneint, eine Lösung dieses brennenden anthropologischen Problems. Denn beide sind Äußerungen des gleichen menschlichen Zustandes, nämlich des Gefühls kosmischer und sozialer Heimatlosigkeit. Weder der Einzelne für sich selbst, noch die Masse an sich stellen das lebenswerte und lebensvolle Fundamente des menschlichen Daseins dar. Beide sind mächtige, aber extreme Abstraktionen. Was aber wäre dann das wahre, echte Dritte, der vielgerühmte goldene Mittelweg, der die Extreme in einer höheren Einheit verbindet?
Entdeckung des Du
Das grundlegende, elementare, schöpferische Ereignis ist die Entdeckung des Du, so wie Feuerbach sinngemäß sagt: Das Wesen des Menschen ist nicht im einzelnen Menschen für sich allein, sondern nur in der Einheit des Menschen mit dem Menschen, in einem Wir. Das Wir basiert sowohl auf der Realität des Unterschiedes von Ich und Du als auch dem Anspruch, dass der Mensch dem anderen Menschen begegnet, aber nicht ungerührt und fremd, sondern dass Wesen und Wesen aneinander Anteil nehmen, ineinander überfließen, miteinander integrieren. Der Einzelne ist wohl Tatsache der unmittelbar erlebbaren Existenz, aber das Fundament seines Lebenssinnes ist der Mensch mit dem Menschen, die wesenhafte Begegnung des Ich mit dem Du als einer schöpferischen Urkategorie, zur dynamischen Ganzheit des Wir sich fügend.
Erster Eindruck
Wenn wir Menschen das erste Mal einem anderen gegenübertreten, so sei, sagt ein altes englisches Sprichwort, der erste Eindruck der entscheidende. Wir urteilen in diesem Augenblick spontan, intuitiv, nach Gefühl, subjektiv; aber dennoch unsere persönliche zuneigende oder ablehnende Haltung begründend und bestimmend. Das äußere Erscheinungsbild ist es daher, welches den entscheidenden Eindruck zum Vorteil oder zum Nachteil der sich Begegnenden bestimmt. In wie vielen Fällen störender, entstellender Symptome werden oft wertvolle Menschen von anderen, denen sie innerlich nahe sein möchten, aufgrund dieses ersten unglücklichen Eindrucks zu Unrecht zurückgestoßen, unbewusst lieblos zurückgewiesen in ihr Alleinsein, aus dem sie sich herausgesehnt haben. Denken wir dabei nur an den verzweifelten Satz in einem Brief Nietzsches: „Wenn ich Dir einen Begriff meines Gefühls von Einsamkeit geben könnte! Unter den Lebenden so wenig als unter den Toten habe ich jemanden, mit dem ich mich verwandt fühle. Dies ist unbeschreiblich schauerlich ...“. Dabei brauchen gerade diese Menschen einen Ausweg, einen Weg hinein in die Gemeinsamkeit eines irgendwie gestalteten wesenhaften Wir, um zu einem inneren Gefühl der Lebenserfüllung und damit des inneren Friedens zu gelangen.
Mitmenschliche Resonanz
Erkennen wir daran nicht, wie das Selbstwertgefühl und damit die Sinnhaftigkeit unseres Lebens beeinflusst und mitgetragen wird von der Resonanz des Menschen im anderen, in der Zweisamkeit zweier sich liebender Menschen, in dem Wir der Familie, als den Grundpfeilern des menschlichen Erlebnisses der Gemeinsamkeit, in den Bindungen der Arbeitsgruppe, der Berufsgemeinschaft und zuletzt der Gesellschaft? Heute sehen wir, dass die Kosmetik in der modernen Gesellschaft darüber hinaus bis in die grundlegenden Bindungen der Menschen untereinander und miteinander zu individuellen und überindividuellen Gemeinschaften und „Gesellungen“ reicht, wie Vershofen dies auszudrücken pflegte.
Selbstvertrauen
Selbstverständlich beginnt die Wirkung dabei primär beim Einzelnen selbst. Schon rein äußerlich verursacht ein Nachlassen oder Aufhören vordem störender Hautsymptome ein gefälligeres, ansprechenderes Aussehen der ganzen Person. Der betreffende Mensch gefällt sich selbst besser und nimmt freudig und dankbar anerkennende Worte seiner Mitmenschen in sich auf, ebenso wie ein Kranker die ersten ihm mitgeteilten Anzeichen seiner Genesung. Das ist das unbewusst wirkende Einflussnehmen allein durch die kosmetisch pflegende Tätigkeit selbst. Aber wir müssen