Sie legten sich in ihre Boxen. Hier gab es keine Optionen auszuwählen, keine alten Single Player Spiele. Man wurde in jene virtuelle Welt befördert, die der Kurs verlangte. »Hier gibt es ausschließlich Multiplayer. Menschen in einer Gruppe, diejenigen, die sich zugehörig fühlen, radikalisieren sich weniger, sind weniger aggressiv«, murmelte Jackie. Wie passend, dachte Emma. Eine Menge einzelgängerischer Teenager wurden zur Interaktion gezwungen. Der Einstiegskurs war eine Gemeinschaftsübung. Man sollte gemeinsam ein Stück Wald zivilisieren. In Wahrheit war das albern, wenn man bedachte, dass sie mitten im Wald saßen. Aber im echten Wald wäre das Töten von Bären zu gefährlich gewesen. Auch sahen die Tiere im Vibe nicht aus wie echte Tiere, sondern jene, die man füttern sollte, waren entsetzlich niedlich mit buschigen Schwänzen und runden kleinen Gesichtern, stupsnasig. Doch was man töten sollte, hatte Säbelzähne und wütende rote Augen. Emma hielt sich im Hintergrund. Die durch die Luft fliegenden Punktestände gingen ihr auf die Nerven. Sie sammelte kaum welche. Sie hatte fünf Punkte bekommen, weil sie einen auf den Rücken liegenden Käfer umgedreht hatte. Hauptsächlich, weil sie sehen wollte, wie detailliert er gemacht war. Für das Spiel hatte sie ihre Brille zurückbekommen. Die Grafiken ihrer eigenen Spiele waren besser, aber sie mochte Käfer. Jackie hatte sie in der Gruppe verloren. Potz tötete alles, was er sah, und hatte nur Minuspunkte: Häschen, Eichhörnchen, flauschige Entchen. Er hetzte in schnellem Sprint schon zu Beginn an ihr vorbei und schnitt einem Murmeltier die Kehle durch, dann sah sie ihn lange nicht mehr, nur seinen über ihm in den Himmel schwebenden Punktestand konnte sie schon aus weiter Ferne erkennen: Die Anzeige war rot statt grün. Er machte das wohl mit Absicht. Einige bauten an einer Hütte und sangen dabei Lieder, deren Text Emma im Inventar ihres Avatars fand, aber sie hatte keine Lust zu singen. Einige schnitzten Lanzen – sie würden den Blutrünstigen Säbelzahnbären finden. Das war der Quest, an dem man sich zu beteiligen hatte. »Pilze sammeln« war eine Option im Questverzeichnis, also zog Emma los, streifte über Lichtungen, die weit idyllischer waren als Untermürbwies. Was hatte sie sich eingebrockt? Ein albernes Spiel mit Teambuildingfunktion für Schüler war das, sonst nichts.
Als ihre Eltern das erste Virtuali kauften, hatte sie auch ein Spiel mit einem Wald. Die Wölfe von Pripyat. Es basierte auf einem Märchen von Tante Brause, vor deren Sendung im Aufrichtigen Äther sie als Kind oft abgesetzt worden war, und mit den Wölfen konnte man sprechen. Als Kind glaubte sie, dass Wölfe die besseren Menschen wären, bis sie erfuhr, dass echte Wölfe keine Sprache hatten. Sie streichelte die Samen von Pusteblumen, beobachtete, wohin die Vögel flogen, und hielt erst an, als sie hinter sich ein Donnergrollen hörte. Nein, kein Donner. Ein Knurren, ein tiefes, kehliges Knurren aus einem Resonanzraum wie ein steinerner Saal. Sie blieb stehen. Sie erwog, umzudrehen. Bekam man Minuspunkte, wenn man starb? Langsam drehte sie den Kopf ein Stück in die Richtung, aus der der vermeintliche Donner auf sie zugerollt war, aber ihr Blick blieb zwischen Farnen hängen, hinter denen sie Potz’ Gesicht erkannte. Grinsend und blutverschmiert. Sie fühlte einen unangenehmen, warmen Hauch im Genick. Potz legte den Finger auf seine Lippen, zog ein Messer hervor und sprang mit einem großen Satz an ihr vorbei, mitten hinein in das Ungetüm.
Als sie den Blick nach hinten wandte, war der Bauch des Tieres schon aufgeschlitzt und Potz zog mit langen, schwungvollen Bewegungen laut trällernd die Därme des brüllenden Tieres heraus: »There’s no -piep- like horse -piep- to send your -piep- piep- into -piep-!« Blut und Kot spritzten in Emmas Gesicht. Sie kannte das Lied. Warum das letzte Wort »shock« ausgepiept war, wusste sie nicht, mit vier Piep hatte sie es noch nie gehört. Noch bevor das tosende Geschrei des virtuellen Bären endete, wurden sie zurückgeworfen in ihre Vibeboxen. Der Gruppenleiter hatte das Spiel abgebrochen. Weder war vorgesehen, dass der Bär von einem einzelnen Teilnehmer getötet wurde, noch dass er von einem einzelnen Teilnehmer getötet werden konnte. Das sollte nicht möglich sein, schnaubte er Potz an, der losprustete, lachend nach Luft schnappte und sagte: »Ich war doch nicht allein. Emmchen hier hat mir geholfen. Ist es nicht so?« Emma nickte langsam. Der Gruppenleiter warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Als Köder«, sagte sie leise und einige in der Gruppe grölten, johlten und applaudierten, währen Potz sich verneigte und kaum zu kichern aufhören konnte. Was hätte sie auch sonst sagen sollen?
Jackie hatte etwas Rührendes. Gerade jetzt, als sie aus den Vibes gestiegen waren. Als hätte sie im Vibe etwas Entsetzliches erlebt, dabei war doch sie, Emma, unfreiwillig zum Köder geworden. Jackie weckte in Emma das Bedürfnis, sie zu beschützen, und das ließ Emma begreifen, dass Potz zumindest Jackie gewiss nichts Böses wollte. Sie hätte nicht anders gekonnt, als Jackie zu folgen. Gleich nach dem Seminar darüber, wie wichtig Bildung war, und wie wichtig es war, Bildung sorgsam auszuwählen, denn nicht jedes Wissen in der Welt verbessert diese. Das wussten sie doch alle, dachte sie. Das wussten sie schon aus der Schule. »Was, wenn ich nicht weiß, woher die Information kommt? Ich frage für einen Freund«, sagte Richard. Sie waren alle unglaublich höflich, fragten immer nur für Freunde. Fast hätte man glauben können, sie seien in einem Unterstützungswürdigenlager.
Am Abend gab es eine rituelle Ankündigung, während sich alle an den Esstischen vor der Tribüne niederließen. Hier wurde laut verlesen, welche Teilnehmer die höchsten Punktezahlen hatten, natürlich als Gruppe. Ihre Hütte war nicht dabei. Potz’ Abschlachten des Bären hatte seinen Punktestand zwar ins Plus gezogen, Punkte, die er sonst mit anderen hätte teilen müssen, aber wer weiß, wie viele Eichhörnchen er davor niedergemetzelt hatte. Dann wurde wieder getrunken, man dankte der Union dafür, hier sein zu dürfen, und endete mit »Das Licht leuchte uns«, bevor gemeinsam gegessen wurde. Schließlich stand noch Singen auf dem Programm. Emma kannte die Lieder aus der Schule. Sie sangen das Konsulslied, das davon handelte, dass der Konsul sie alle beschützte und das System im Gleichgewicht hielt. Sie sangen den Log-a-log-a-log. In alle Sprachen waren die Lieder übersetzt worden. Jackie sang lauthals mit, so zart ihre Stimme auch sonst sein mochte, ebenso wie Richard, bei dem alles Musikalische nahezu ironisch klang. Potz trank mehr, um weniger singen zu müssen. Viele hatten Tränen in den Augen. Jackie wirkte geradezu selig. Der Schachspieler ein paar Tische weiter starrte auf seine Füße, doch seine Lippen formten brav den Text, auch wenn vielleicht kein Ton herauskam. Einige in den ersten Reihen weinten. Sie würden bald gehen, nach Hause fahren, sie herzten und umarmten einander. Je länger man hier war, umso weiter vorne saß man. Man rückte mit der Dauer des Aufenthalts nach vorne. Der Ausgang des Zeltes war hinter der Bühne. Wer hinten saß, konnte nicht »kurz hinaus«, man musste an allen anderen vorbei. Hier gab es keinen anderen Fluchtweg. »Karell?«, dachte Emma. So saß sie und bewegte den Mund Lied für Lied für Lied.
Eine in der ersten Reihe fiel auf die Knie, als hätte sie gerade ein Erweckungserlebnis oder eine Erscheinung. Sie weinte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen, fiel hin, hievte sich hoch, jaulte den Text mit schrillen Spitzen. Einige sammelten sich um sie und applaudierten im Rhythmus zur Musik, feuerten ihren geistigen Niedergang auch noch an. Emmas verächtlicher Blick wurde von einem der Gruppenleiter bemerkt. Sie zog verkrampft die Mundwinkel nach oben und sang weiter. Zum Nachtisch servierte man Ananas und Melone. Emma hingen beide schon zum Hals heraus. Immer gab es Ananas und Melone. Andere Kinder bekamen auch Birnen und Äpfel. Zu Hause gab es auch immer nur viel zu süße Ananas und Melone, aus denen die braunen Teile ausgeschnitten waren, die im Hals kratzten.
Am Ende des Abends gab es die Ehrung der erfolgreichsten Gruppen, nur das Team zählte. Die Einzelwertungen wurden jedoch auch auf der großen Leinwand hinter der Bühne eingeblendet. »Damit man sieht, wer nichts für die Gruppe beigetragen hat«, knurrte Potz in ihr Ohr. Sie stand ganz unten, sie hatte gar keine Punkte. Er sah sie an, eine Augenbraue nach oben: »Deine Leistung wurde nicht gewürdigt.« Als würde er sagen: Sieh doch, der Vibe hat die Punkte