»Du bist einfach nur ein Trottel«, sagte Potz und saugte an einem Vaper. Sie fragte sich, wie er sich das Qualmen leisten konnte, und wunderte sich, dass nicht gleich ein Feueralarm losging und dass es keinerlei harte Maßnahmen gegen so etwas gab. Emma wartete bereits darauf, dass er auch sie beleidigte. Es roch süßlich, ihr war schlecht. Potz schloss die Augen. Jacqueline lächelte, auch sie könne nicht machen, was sie zu Hause gemacht hatte. Das sei schließlich der einzige Sinn dahinter, hierher geschickt zu werden, nach Untermürbwies.
»Wissen Sie, Emma, ich gehöre zu einer Familie magischer Wesen. Wir alle wählen den Zeitpunkt unseres Ablebens selbst. Das ist unsere Freiheit. Verstehen Sie?« Eine Suizidale also, dachte Emma, aber immerhin eine, die sich gepflegt ausdrückte. Potz blickte Emma an, als käme nun die nächste Beleidigung, drehte sich dann aber zu Jacqueline um.
»Ach, Jackie«, sagte er, zog Rotz hoch und spuckte in imposantem Bogen wieder mitten ins Zimmer. Jackie befühlte einen Pickel an ihrem Kinn, als hätte sie nicht bemerkt, dass er sich beherrscht hatte. Wer weiß, vielleicht sogar ihr zuliebe. Jackie zog ihre Weste aus, das Kleid war rückenfrei. Sie wollte wohl, dass man es sah, dass man sah, was sie war. Sie bemerkte Emmas Blick auf ihrem Rücken: »Lichtenbergfiguren«, lächelte sie, »ich bin vom Blitz getroffen worden.« Wie rote Äste, wie eine Tätowierung in Form eines japanischen Kirschbaums zogen sich die Linien vom Nacken nach unten. Aufmerksamkeitshure, dachte Emma und biss sich auf die Zunge. Immer wieder ließen reiche Eltern, die ihre Kinder als Embryo genetisch »repariert« hatten, diese vom Blitz treffen, wenn sie größer wurden. Als Emma klein war, war einer in ihrer Kindergruppe gewesen. Er musste Windeln tragen, bis er alt genug war, es operativ in Ordnung zu bringen. Auch die gelähmte Gesichtshälfte. Den meisten Lichtkindern blieben Andenken. Was vor der Geburt genetisch herumgecrispert werden konnte, war danach eben nicht mehr möglich.
»Wie bedauerlich. Hat es wehgetan?«, fragte Emma und bemühte sich um einen möglichst natürlichen Ton.
»Das wollen Sie doch nicht wirklich wissen«, entgegnete Jackie, »in Wahrheit denken Sie nur: Nur gut, dass mir das nicht passiert ist.«
»Jackie ist vermutlich die beeindruckendste Person, die mir je begegnet ist«, begann Richie.
Irgendjemand hat immer ein krankhaftes Harmoniebedürfnis.
»Sie treffen nicht viele Leute, Richard, oder?«, wandte Jackie sich ihm zu.
»Da hast du recht, Jackie«, warf Potz ihr zu. Sie lächelte immer noch. Emma gingen sie jetzt schon auf die Nerven.
»Heute am Abend gibt es ein Lagerfeuer. Schon wieder. Aber wir sind angehalten, möglichst alle hinzugehen. Du kommst doch mit?«, fragte Richie. Neben der Tür hing großformatig der Wochenplan mit den bevorstehenden Veranstaltungen. In Blockbuchstaben waren die Angebote aufgezählt: Rudern, Schwimmen, Modern Dance und einzelne Programme von privaten Fernsehsendern, die meisten davon endeten auf -camp. Viele waren mit dem kleinen Vibe-Logo markiert. Freizeitaktivitäten waren grün unterlegt. Rot unterlegt waren Veranstaltungen mit Anwesenheitsvorschlag: Richtig Lesen, Wertvolle Informationen erkennen, Freude an der Natur, Soziale Interaktion. Emma schluckte. Nein, sie gehörte nicht zu denen. Irgendwo roch es nach Pinien. Sie wäre lieber mit Karell allein gewesen.
3Schach
Im Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal.
Das Feuer knackte und Emmas Wangen wurden heiß. »Ich kann schon nicht mehr trinken«, sagte Jackie. »So tun Sie doch etwas!«
»Besser nicht«, schüttelte Richie den Kopf. Sie würden ihr dann ja doch nur eine Portion Pommes bringen und einen Wodka-Tonic. Wenn er einfach davongerannt wäre, dann müsste er auch nicht hier sitzen und Alkopops trinken. Bis zum Ende der Woche würde der Hüttenvorrat aufgebraucht sein. Das Programm »Ernährung für alle«, wie es in den Städten allen Bewohnern geschenkt wurde, gab es hier nicht. Es hatte den Zweck, die Menschen gesünder zu machen. Hier wurde den Jugendlichen Ungesundes gegeben, damit der Aufenthalt positiv in Erinnerung blieb. »Doppelt frittiert«, fügte Richie hinzu und öffnete eine Dose, reichte sie Emma. Seine Finger streiften ihre. Das war ihr erstes Getränk an diesem Abend. Jackie steckte sich ständig Pillen in den Mund.
»Mein Kopf ist schwerer als meine Seele, der Totengott, der Totenkopf lässt uns beide nicht gehen.« Richie rülpste, nachdem er das gesagt hatte. Potz rülpste ebenfalls, jedoch um einiges lauter, als müsste er etwas beweisen. »Das kickt«, fügte Richie hinzu und hob seinen Becher.
»Ach, und im Osten wäre es besser?«, fragte Emma und nahm einen Schluck, denn Richies Behauptungen schienen ihr interessanter als der Totengott.
»Die Wahrheit ist ja die«, fuhr Richie fort, »dass die Menschen, ja, das wusste man schon im alten Griechenland, von Zeus auseinandergerissen worden sind. Heute weiß man das ja nicht mehr. Nicht mehr vier Beine und vier Arme und zwei Gesichter auf einem Kopf mit Augen vorne und hinten. Aber den Russen, den Russen, denen hat er die Seele im Inneren noch einmal geteilt, weil sie eine Revolution anzettelten, weil sie sich das nicht gefallen lassen wollten. Die müssten sich selbst lieben, fänden sich aber nie im eigenen Körper und müssten daher neben der Liebe auch den Hass suchen. Das ist die Poetenseele.« Er rülpste wieder. Potz machte sich nicht die Mühe. Zu Dostojewskijs Zeiten mag das so gewesen sein, dachte Emma, aber heute? Das Konzept des Camps in Untermürbwies stammte aus dem Osten. Sie sagte es Richie nicht, er wäre dann vielleicht traurig gewesen. Es gibt ebenso wenig hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol, dachte sie. Beides gibt es nur mit Zucker.
»Die Poetenseele …«, sagte er wieder, verstummte aber gleich, denn das war kein erwünschtes Gesprächsthema und der dünne Mann im Trainingsanzug von der Anmeldung kam auf sie zu:
»Da drüben gibt es Bio-Hotdogs, wenn ihr möchtet«, meinte er, ein hässliches Grinsen hatte er, das er selbst vermutlich für ein freundliches Lächeln hielt. Sie sahen alle zu Boden. Nur Potz, Potz zog an seinem Vaper, nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche und starrte den Dünnen an.
»Worüber sprecht ihr?«, fragte der nun. Emma versuchte, aus den Augenwinkeln zu beobachten, was passierte, Potz starrte den Dünnen immer noch an: »Wir spielen ›Ich hab noch nie‹.«
Dann zog der Dünne ab, offenbar zufrieden mit der Antwort.
»Ich hab noch nie?«, fragte Emma.
»Ein Trinkspiel, das er uns gestern zum Zeitvertreib vorgeschlagen hat«, antwortete Potz, lehnte sich zurück, sah dem Dünnen nach: »Ich hab noch nie ›Ich hab noch nie‹ gespielt«, lachte er, und alle nahmen einen Schluck, sogar Jackie.
»Scheiß Camp«, sagte Potz und hielt Emma die Flasche hin, aber sie wusste, sie würde Wodka niemals pur hinunterbekommen.
»Noch zwei Jahre, bis wir vielleicht wählen dürfen, wenn wir uns qualifizieren«, sagte Emma. Für alles gibt es ein Mindest-, aber für nichts ein Maximalalter.
»Ich habe einmal zwei – wie sagt man statt ›alt‹? – im Öffentlichen gesehen, die sich um den Bedürfnisplatz stritten. ›Ich hatte einen Schlaganfall‹, meinte der Eine, und der Andere: ›Ich habe zwei Bypässe.‹ Als wäre es ein Quartettspiel. Die reinste Soap. Dabei sind für diese Generation körperliche Reparationen aller Art immer leistbar und sie bekommen auch noch Rabatte. Der Log hat sie dann nur mehr in verschiedene Busse gelassen. Wegen der Harmonie.« Die alte Generation hatte solche Leiden noch, sie waren schwer vorstellbar. Wer sich einmal für das Wahlrecht qualifiziert hatte, verlor es nicht so leicht wieder. Früher war es sicher leichter, sich zu qualifizieren. Nur liken konnte man immer.
Richie nickte: »Auch vom Fernseher komme ich mir immer so vergewaltigt vor. Die ganzen Betroffenheitssoaps und Sozialpornos. Irgendwelche C-Promis, die Flüchten spielen. Mit echten Lagern, Schleppern und überfüllten Booten. Scheiß Reality-TV.«
»Also statistisch …«, begann Emma, aber Potz schnitt ihr das Wort ab: »Zahlen sind wertlos.« Sie bedachte ihn mit einem bemüht giftigen Blick.