Erfreulicherweise liefert der Online-Handel auch gleich die Voraussetzungen für die immer vielfältigere Produktpalette, die er heraufbeschwört. Wer im stationären Handel ab sofort doppelt so viele Produkte in seinem Geschäft anbieten möchte, muss hoffen, dass sein Nachbar in den kommenden Tagen seine Verkaufsfläche räumt. Im Online-Handel reicht es, die neuen Produkte in den Shop zu stellen und etwas mehr Lagerfläche in Anspruch zu nehmen. Und nie war es einfacher, seine Einkaufspolitik an den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden auszurichten und fortlaufend zu verbessern. Schließlich werfen Webshops nicht nur aufgeschlüsselte Verkaufsdaten, sondern auch exakte Suchanfragen beinahe in Echtzeit ab. Der Kunde wird transparenter, wenn man nur hinschaut.
Händler müssen sich also im E-Commerce grundlegende Gedanken zu ihrer Einkaufspolitik machen, haben aber Aussicht auf eine Beschaffung, die präziser und deswegen effizienter ausfällt als je zuvor. Im Folgenden schildern wir die theoretischen Grundlagen zur Spezifizierung, Kundenorientierung und Optimierung der Beschaffung im Online-Handel.
2.1.1Spezifizierung des Angebots
Von Shorttail zu Longtail
Auch wenn Sie bislang wenig bis gar nichts mit E-Commerce am Hut hatten, werden Sie das Wort „Longtail“ („langer Schwanz“) bestimmt schon einmal gehört haben: Seit dem Erscheinen des Buches The Long Tail von WIRED-Chefredakteur Chris Anderson im Jahr 2006 ist dieser Begriff geläufig. Allerdings wird die revolutionäre Kraft des Konzepts auch ein gutes Jahrzehnt nach seiner Prägung immer noch unterschätzt – vielleicht deswegen, weil viele den Begriff kennen, ohne ihn wirklich zu verstehen. In seinem Kern beschreibt das Wort Longtail einen einzelnen, sehr wesentlichen Effekt:
Auch Kleinvieh macht Mist.
In der Theorie des klassischen Handels wird ein Produkt auf den Markt gebracht und erreicht gleich danach seinen Verkaufshöhepunkt. Danach nimmt der Absatz drastisch ab, und bald verkauft sich das Produkt nur noch schleppend. Es wird zum Ladenhüter. Da aber der Platz in einem Laden begrenzt ist, muss ein Ladenhüter aus dem Sortiment entfernt werden, damit er dem nächsten Verkaufsschlager keine Regalfläche wegnimmt. Das ist ein Shorttail-Ansatz.
Der Longtail-Ansatz interessiert sich dafür, was nach dem Verkaufshöhepunkt passiert – und erst recht dafür, was passiert, wenn es nie einen nennenswerten Verkaufshöhepunkt gab. In dieser Sortimentsstrategie geht es darum, nicht nur Kassenschlager, sondern auch Nischenprodukte, Liebhaberstücke und nicht unbedingt mehrheitsfähige Artikel anzubieten – und zwar in einer solchen Breite, Tiefe und Vielfalt, dass sie zusammengenommen mindestens genauso viel Umsatz bringen wie potente Verkaufshits.
Wenn also Produkte ins Sortiment aufgenommen werden, die für den Einzelhandel wegen kleiner Stückzahlen oder begrenztem Nischeninteresse auf den ersten Blick uninteressant sind – oder wenn auch Produkte mit abnehmenden Verkaufszahlen nicht aus dem Sortiment entfernt, sondern weiterhin angeboten werden –, sammelt sich schnell ein Katalog aus „Ladenhütern“ an, die aber dennoch über einen längeren Zeitraum den Laden verlassen und dabei für Umsatz sorgen. Je größer diese Palette an weniger nachgefragten Produkten wird, desto höher ist der Umsatzanteil, den sie generiert. Und im Online-Handel fallen typische Platzbegrenzungen wie Regalmeter und Ladengröße weg: Zwar dürfen die Kosten für die digitale Produktdatenerstellung und Artikeldarstellung (siehe 2.2 Produktpräsentation) ebenso wenig vernachlässigt werden wie die Kapitalbindung für die gelagerten Güter. Diese Kosten liegen aber in der Regel niedriger als im klassischen Einzelhandel mit seinen hohen Kosten für Verkaufsfläche und Ladenpersonal oder sie können sogar durch neue Geschäftsmodelle gänzlich an Dritte ausgelagert werden (siehe unten). Im besten Fall handelt es sich gleich um virtuelle Güter wie MP3-Lieder oder E-Books, die quasi unendlich digital gelagert und angeboten werden können.
Fallbeispiel: Musik im stationären Handel und im Netz
Als erstes ließ sich der Longtail-Effekt im Musikmarkt dokumentieren – und dort ist er immer noch am einschlägigsten zu beobachten. Im Folgenden blicken wir auf die spezifischen Verkaufszahlen, die schon früh im neuen Jahrtausend aus gegensätzlichen Long- und Shorttail-Ansätzen im Musikvertrieb generiert wurden und analysieren die Rechnung, die aus ihnen hervorgeht.
2006 stellte Chris Anderson zur Veranschaulichung die Verkaufsmodelle von Walmart und Rhapsody gegenüber: Der Verbrauchermarkt-Gigant Walmart war damals der größte Verkäufer von Musik in den USA – in der Form von CDs. Rhapsody war der führende legale Anbieter von Musik über das Internet, sowohl bei MP3-Downloads als auch über Streaming.
In Walmart-Märkten war eine bestimmte Verkaufsfläche für Musik ausgewiesen. Sobald sich eine Platte nicht schnell genug verkaufte, wurde sie zugunsten eines sich flinker absetzenden Albums aussortiert. So bot Walmart rund 4.500 CD-Titel mit circa 25.000 einzelnen Liedern an. Davon lieferten die 200 Top-Kassenschlager ungefähr 90 Prozent des Umsatzes.
Beim Portal Rhapsody waren damals über 4,5 Millionen einzelne Lieder verfügbar: So war das Inventar 180-mal größer als bei Walmart. Davon machten zwar ebenfalls die beliebtesten Lieder einen Großteil des Umsatzes aus. Aber interessanterweise trugen Titel, die nie Verkaufsschlager gewesen waren, signifikante Erlöse bei. Einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag lieferten ebenfalls die Tracks, die nach einer Zeit als Kassenschlager in den Download-Rankings relativ weit nach hinten gerutscht waren. Beispielsweise kamen mehr als 15 Prozent des Gesamtumsatzes über Songs, die zwischen Rang 100.000 und 800.000 platziert waren.
Abbildung 2.2: Rangfolge der Download-Zahlen einzelner Songs auf Rhapsody
Quelle: in Anlehnung an Chris Anderson, The Long Tail, DTV, 2009, S. 19
Das muss man sich vor Augen führen: Bei Walmart waren grob gerechnet die Lieder, die nicht zu den „ersten 25.000“ gehörten, nicht verfügbar. Rhapsody machte aber mit Liedern Geld, die sich unter dieser Beliebtheitsschwelle angesiedelt hatten, überdies noch mit Tracks, die viermal so unbeliebt waren – und sogar mit welchen, die sich sechzehnmal schlechter verkauften!
Die vielen Produkte, die in einem Popularitätsranking ganz hinten rangierten, machten soviel Umsatz wie die wenigen Produkte, die ganz vorne waren.
Das ist die wesentliche Erkenntnis aus der Gegenüberstellung vom Walmart und Rhapsody. Der Longtail des Rankings hatte es also genauso in sich, weil sich dort extrem viele (sich vergleichsweise schlecht verkaufende) Produkte befanden. Wenn sich 1.000 Produkte jeweils 100.000 Mal verkaufen, kommen dabei 100.000.000 (einhundert Millionen) Verkäufe zustande. Wenn sich 100.000 Produkte jeweils nur 1.000 Mal verkaufen, werden aber genauso viele Verkäufe abgeschlossen.
Wenn diese Rechnung so einfach ist, warum ist diese Idee dann so neu?
E-Commerce: Der Longtail wird länger denn je
Die Antwort ist: Die Idee ist vielleicht nicht so ganz neu, aber die Umsetzung in diesen Größen war vor E-Commerce nie möglich. Denn der Longtail-Absatz ist auch in der Musikbranche schon lange praktiziert worden: Während Walmart als nicht-spezialisierter Anbieter knallhart die Musik aussortierte, die sich nicht in der limitierten Verkaufsfläche rentierte, gab es natürlich auf dem US-Markt zahlreiche Läden, die sich auf Musik konzentrierten und Kunden anlockten, die auf der Suche nach älteren oder weniger beliebten Stücken waren. Das Spektrum an solchen Händlern reichte in den 1980er- und 1990er-Jahren von enzyklopädisch sortierten Tower-Records-Stores bis hin zu den kleinen inhabergeführten Läden in den Stadtvierteln, die sich auf bestimmte Musikrichtungen oder Lokales und Unkommerzielles spezialisiert hatten. Gerade solche Läden machten viel Umsatz jenseits des Shorttails.
Nur war ihr „langer Schwanz“