Kleinere Händler abseits der Einkaufszentren hatten zwar geringere Kosten für Mitarbeiter sowie mietengünstigere Randlagen, stießen aber irgendwann ebenfalls an eine Profitabilitätsgrenze. Was sie allerdings als Ass im Ärmel hatten: Musik, die woanders nicht verfügbar war. Mixtapes von Musikern, die sich unterhalb des kommerziellen Radars bewegten, wurden in den 80ern und 90ern über solche Inhaberläden bezogen. Diese Exklusivität und Rarität hatte aber ebenfalls seine Beschränkungen: Die Künstler mussten über die Mittel verfügen, Ihre Musik aufzunehmen und zu vervielfältigen – sei es auch nur in kleinem Umfang –, und überdies die Ladenbesitzer davon überzeugen, Platz dafür in den Regalen freizuhalten.
Abgesehen von der Breite und Tiefe des Angebots waren sowohl Musikketten als auch lokale Händler räumlich begrenzt: Das letzte Exemplar einer Schallplatte einer vergessenen Rockband aus den 70ern, die in einem Laden in Boston schlummerte, nutzte dem besessenen Fan, der verzweifelt in Seattle nach ihr suchte, reichlich wenig. Und bis dieser Fan es nach Boston schaffte, war die Platte dem Händler ebenfalls ein Klotz am Bein.
Angebot und Nachfrage waren nicht optimal verknüpft. Der Longtail war beschnitten.
Dann kam das Internet – und mit ihm Portale wie Rhapsody, Itunes und Amazon, die Musik verkauften. Plötzlich wurden teure Regalmeter durch günstige Serverkapazität ersetzt, was es den Händlern wiederum erlaubte, alles ins Programm aufzunehmen. Sogar Musiker, die vorher nie eine Möglichkeit hatten, ihre Erzeugnisse auf den Markt zu bringen, konnten ihre Lieder anbieten, und weder Plattenfirmen noch Ladeninhaber konnten sie mehr abweisen. Und in den virtuellen Läden konnte jeder Musikfan jederzeit vorbeischauen, ob aus Boston oder aus Seattle, der Heimatstadt von Rhapsody.
Insofern ist die Erzählung, wie Rhapsody vom Longtail profitiert hat, Teil einer übergeordneten Geschichte: Der große Wandel – vor allem im Bereich der Medieninhalte – von begrenzten, bewachten Produktions- und Verkaufsmöglichkeiten hin zu demokratischen Strukturen, in denen jeder Produzent und Händler werden kann. Für den E-Commerce ist diese Entwicklung entscheidend, denn wer es vielen Erzeugern ermöglicht, ihre Produkte an die Kunden zu bringen, und es vielen Kunden ermöglicht, das zu finden, wonach sie suchen, kann im Promillebereich des Longtails Geld verdienen.
Die Longtail-Entwicklung wurde mit Musikanbieter Rhapsody dokumentiert und bleibt am sichtbarsten im Bereich der medialen Erzeugnisse. Amazon, Itunes oder Netflix haben alle Geschäftsmodelle, die nicht ohne den schleppenden, aber andauernden Verkauf von Millionen nischenspezifischer oder älterer Bücher, Songs und Filme – vor allem in elektronischer Form – auskommen. Ein Großteil dieser Anbieter hat zwischenzeitlich das Geschäftsmodell von Verkaufs- und Handelsmargen allerdings zu nutzungsabhängiger Bezahlung umgestellt, bei denen eine monatliche Gebühr fällig wird. Auch hier profitiert das Modell aber von einem großen Long-Tail-Angebot, das für jeden Geschmack etwas bietet. Das Prinzip ist auch in anderen Produktsegmenten anwendbar, wenn auch nicht in derselben Größenordnung, denn Kleidung oder Einrichtungsgegenstände sind nun einmal Waren, die auch in günstigen Lagerhallen abseits der Großstädte Platz einnehmen und Kapital binden. Zudem prägen in vielen Segmenten immer kürzere Produktlebenszyklen die Sortimente, zum Beispiel im Bereich Home Electronics, in dem auf jede Neuerung dicht die nächste folgt und das Vorgängermodell auf die Resterampe, schlimmstenfalls auf die Müllhalde verbannt. Ungeachtet dessen gilt in allen Bereichen des E-Commerce: Der Verkaufsschlager ist keineswegs tot, aber er ist angeschlagen.
Abbildung 2.3: Umsätze und Gewinne von Stationär-Händlern und Longtail-Händlern im Vergleich
Quelle: in Anlehnung an Chris Anderson, The Long Tail, DTV, 2009, S. 132
Nicht nur Kühe, sondern Kleinvieh: Longtail-Beschaffung
Die Verschiebung der Gewichte durch den Longtail wird besonders deutlich, wenn man ihn neben einem klassischen Geschäftsmodell aus dem stationären Handel aufstellt und in drei Stufen unterteilt: Angebot, Umsatz, Gewinn. Mit anderen Worten: Aus der bekannten 80:20-Faustregel wird ein Drei-Drittel-Prinzip.2 Setzen wir einmal voraus, dass im stationären Handel 20 Prozent der angebotenen Artikel 80 Prozent der Verkaufserlöse ausmachen. 80 Prozent der Artikel werfen demnach nur 20 Prozent des Umsatzes ab. Nach Abzug von sämtlichen mit dem Unterhalt einer Verkaufsfläche einhergehenden Kosten steuern diese 80 Prozent sogar zum Gewinn überhaupt nichts bei: Dieser kommt zu 100 Prozent von den 20 Prozent der Artikel, die 80 Prozent der Verkaufserlöse ausmachen. Ein Longtail-Geschäftsmodell im Internet kann komplett anders aussehen:
Interessante Aspekte lassen sich aus diesen Modellrechnungen herleiten. Erstens: In einem Laden in einer durchschnittlichen Einkaufsstraße werden gut vier Fünftel des Angebots nicht gewinnbringend verkauft. Zugleich ist ihre Anwesenheit notwendig, damit Kunden vom Angebot angesprochen werden und ins Geschäft kommen – um dann bei dem Fünftel der Produkte zuzugreifen, die Gewinn abwerfen.
Bemerkenswert ist aber, dass der Kassenschlager im Longtail-Modell für den Umsatz noch wichtiger ist: Aus den oberen 2 Prozent wird eine volle Hälfte der Verkaufserlöse generiert. Erst in der dritten Stufe, beim Gewinn, relativiert sich diese Verschiebung wieder: Hier trägt jedes Angebotssegment ein Drittel der Gewinne bei. Im Umkehrschluss muss dieser Unterschied an den Kosten liegen. In einem Inventar, das nur aus virtuellen Produkten besteht – wie etwa bei einem Musikdownload-Anbieter –, liegen die Lagerungskosten pro Produkt unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle. Ladenmiete wird durch günstigen Speicherplatz ersetzt. Personalkosten sind eine zu vernachlässigende Größe. Insofern ist es unwesentlich, welches Produkt zu welcher Marge genau verkauft wird. Da ist es sogar akzeptabel, wenn die verkaufsträchtigen Produkte, die 50 Prozent der Umsätze beisteuern, stark rabattiert sind und letztendlich nur 33 Prozent des Gewinns verantworten. Man kann Kühe melken und die Milch zu Kampfpreisen verschleudern, solange genügend Kleinvieh noch Mist macht.
Damit diese Longtail-Rechnung aufgeht, müssen also so viele Produkte wie möglich angeboten und den Kunden zugänglich gemacht werden – unterstützt durch einfache Filtermöglichkeiten, damit die große Auswahl nicht zum „Paradox of Choice“ führt.
Das Prinzip heißt: Make everything available – alles zur Verfügung stellen. Die Beschaffung ist also oberste Pflicht.