So werden in den kommenden Jahren die Grenzen zwischen Online- und Offline-Handel zunehmend verschwimmen – was allerdings überhaupt keine Entspannung für unter Druck geratene stationäre Händler mit notdürftig umgesetzten Multichannel-Konzepten bedeuten wird. Und die Tatsache, dass einige Online-Akteure mittlerweile auch offline verkaufen, bedeutet nicht, dass Pure-Plays mit schwindenden Marktanteilen im Netz nur in stationäre Flächen investieren müssen, um wieder auf den Wachstumspfad zu kommen.
Ganz im Gegenteil: Die Auflösung der Kategorien E-Commerce/stationär wird nichts anderes sein als der ultimative Siegeszug von neuen Handelskonzepten, bei denen „Handel“ im herkömmlichen Sinne kaum noch stattfindet – oder zumindest kaum noch von herkömmlichen Händlern betrieben werden wird. Große Plattformen wie Amazon, die unvorstellbare Mengen an äußerst präzisen Kundendaten besitzen, werden sich langfristig nicht damit zufriedengeben, sich sortimentstechnisch darauf zu beschränken, was von überlasteten Paketdiensten an Konsumenten ausgetragen werden kann. So werden sie zunehmend dahin gehen, wo sich die Kunden tatsächlich aufhalten. Das werden auch neue Akteure tun, die völlig kanalagnostisch vorgehen und sich erst einmal überlegen, was der Zielkunde wann und wo braucht. So können zwar freigewordene innenstädtische Einzelhandelsflächen – woran durch Insolvenzen in den kommenden Jahren kein Mangel herrschen dürfte – zum Einsatz kommen. Die Konzepte können aber auch völlig neue sein.
Der 2014 gegründete holländische Online-Supermarkt Picnic etwa stellt Lebensmittel bereits sehr erfolgreich per „Milchmann-Runde“ zu: Die Picnic-Lieferwagen fahren zu verschiedenen, festen Uhrzeiten mehrmals in der Woche ganze Stadtviertel ab. So können Kunden verbindliche, für sie passende Lieferslots von zwei Stunden buchen und während dieser Zeitfenster die Bewegungen des Lieferwagens per App verfolgen, damit sie keine Zeit unnötig damit verbringen, an der Haustür zu warten. Dieser Vertriebsweg ist nicht nur effizient, sondern ermöglicht es, auch verderbliche Lebensmittel zuverlässig auszuliefern – und baut eine Logistikinfrastruktur auf, die das Unternehmen wiederum anderen anbieten kann.
Abbildung 1.11: Prognose des jährlichen E-Commerce-Umsatzes über die Jahre
Quelle: Statista Market Outlook de.statista.com/outlook/243/ecommerce
So ist Picnic bereits von Anfang an mehr als bloß ein Online-Händler; es ist eine Plattform im Werden. Und in Städten, in denen die innovative Supermarkt-App startet, steigt der Online-Anteil am bislang stark analogen Lebensmitteleinzelhandel binnen kürzester Zeit erfahrungsgemäß auf 5 Prozent. Von solchen neuen Akteuren werden bis 2025 zweifelsohne so einige weitere Segmente revolutioniert werden, weshalb wir sicher sind, dass das Wachstum im E-Commerce keineswegs ausgeschöpft ist. Bloß: Die Definition und die Vokabel „E-Commerce“ treffen nicht mehr ganz zu.
Ausblick der Marktteilnehmer
An dieser Stelle wagen wir einen Blick in die Glaskugel. Niemand kann voraussagen, was passieren wird, allerdings halten wir die folgenden Szenarien für wahrscheinlich.
Etablierte Online-Marktplätze gewinnen weiterhin durch eine Kombination aus dem „Großhändlereffekt“ – sprich: immer mehr Produkte immer günstiger für den Kunden – mit Kundenzugang und Kundendaten. Letztere können sie entweder selbst ausnutzen respektive auswerten oder an Händler und Hersteller weiterverkaufen. Sie werden zu Plattformen, die Kundenaufmerksamkeit und daher Relevanz in ihrem Umkreis gebannt halten. Gewinner: Plattformbetreiber wie Amazon, Alibaba, Zalando sowie ausgewählte nationale Champions.
Online-Händler müssen extrem stark wachsen, um ihre Nischen zu verteidigen. Das führt automatisch zu starken Konsolidierungen im Markt. Zwar entstehen neue Spezialisten mit Category-Killer-Status, deren Geschäft nicht ohne Weiteres von den anderen Marktteilnehmern bedroht werden kann. Aber die Plätze sind in vielen Segmenten bereits vergeben und die Nische muss für Amazon unattraktiv oder schwierig genug sein, um längerfristig Bestand zu haben. Gewinner: sehr große Spezialisten (Galaxus/Digitec, Wayfair), Nischenanbieter (Mytheresa, Kartenmacherei) und Konzepte mit Kundenmehrwert (Outfittery/Modomoto).
Intermediäre sind von Google verdrängt worden oder einer der anderen großen Spezialisten für Kundenbeziehung wie Facebook, Apple oder Amazon übernimmt das Geschäft. Lediglich in einigen wenigen Märkten – etwa die Vermittlung von Übernachtungen oder Finanzprodukten – können Intermediäre überleben. Und es ist dabei fraglich, ob sie nicht eher Plattformen sind. Gewinner: Google, Airbnb, Uber.
Der Katalogversand ist für die meisten Sortimente und Zielgruppen kein alleine tragfähiges Geschäftsmodell mehr. Kataloge erfüllen die Funktion eines unterstützenden Marketingkanals und sind insbesondere durch den starken Wettbewerbsdruck im Display- und Search-Advertising wieder zu einem attraktiven Instrument geworden – für Online-Händler. Gewinner: keine.
Im stationären Handel, vor allem beim Handel mit Fremdmarken, ist mit zunehmenden Insolvenzen zu rechnen, wenn keine sinnvollen neuen Geschäftsmodelle gefunden werden. Lediglich die Vertikalisten (Händler/Hersteller) sowie Anbieter in den wenigen Segmenten, in denen nennenswerte Anteile der Konsumenten noch Beratung vor Ort wünschen, können sich halten – und auch diese müssen zunehmend ebenfalls im Internet präsent sein, um von Kunden noch wahrgenommen zu werden und deren Wunsch nach Wiederholungskäufen online nachzukommen. Gewinner: vertikal integrierte Händler wie Zara, Primark und Ikea; modern aufgestellte Händler in Segmenten wie Beauty und Lebensmittel.
Hersteller gewinnen, jedenfalls diejenigen, die es verstehen, ihre Produkte stationär, online und durch Direktvertrieb optimal zu platzieren – und die über eine Markenstrahlkraft verfügen, die ausreichend stark ist, dass der Kaufimpuls vom Konsumenten ausgeht. Hersteller, die diese Impulse erst auslösen müssen, sehen sich schwindenden Margen und Konkurrenz ausgesetzt, da Plattformen wie Amazon zunehmend Geld für Kundenaufmerksamkeit verlangen – oder in profitablen, aber markenschwachen Produktgattungen eigene Erzeugnisse anbieten. Gewinner: starke Marken wie Adidas, Levis oder Samsung sowie exklusive Luxusanbieter (Chanel, Hugo Boss, Vitra).
Zusammenfassung
Erfolg im Commerce – wir schreiben bewusst nicht: Handel – in den Jahren 2020 bis 2025 wird vom Kundenzugang abhängen. Wer den direkten Zugang zum Kunden beherrscht und daher Daten über sein Verhalten und seine Wünsche sammeln kann, wird diesen besser bedienen und an sich binden. Ob online oder offline: Wer bloß mit Fremdmarken handelt,