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Ob jenseits der Kategorie „langlebiger, hochwertiger und technisch anspruchsvoller Produkte“ auch die herstellerseitig intendierte Erzeugung sowie Aufrechterhaltung eines Produkt- oder Luxusimage die Einrichtung eines selektiven Vertriebssystems rechtfertigen kann, wird bisher uneinheitlich beantwortet. Dagegen spricht, dass die Qualität eines Produktes nicht auf materiellen Eigenschaften, sondern dem Prestigecharakter beruht. Während sich der EuGH insoweit zunächst nur zurückhaltend äußerte, hat er in dem „Coty“-Urteil nunmehr ausdrücklich anerkannt, dass Produkte der Luxuskategorie – auch wenn kein produktinhärenter Beratungsbedarf besteht – die Einrichtung eines selektiven Vertriebssystems rechtfertigen können.[391] So sei die „luxuriöse Ausstrahlung“ eines Produkts aus Sicht der Verbraucher ein maßgebliches Unterscheidungsmerkmal und deren Schädigung geeignet, die Qualität der Ware selbst zu beeinträchtigen.[392] Überdies nimmt der EuGH Bezug auf seine bisherige Rechtsprechung zunächst zum Markenrecht, wonach bereits eine bestimmte Form der Darbietung von Waren zu ihrem Ansehen und somit zur Wahrung ihrer luxuriösen Ausstrahlung beitragen könne.[393] Wichtiger ist allerdings die Klarstellung, dass diese Schlussfolgerung nicht durch die (kartellrechtliche) Entscheidung in der Rechtssache Pierre Fabre[394] entkräftet werde.[395] Damit hat der EuGH der gegenteiligen Interpretation[396] eine endgültige Absage erteilt, sodass mittlerweile unzweifelhaft ist, dass nach der Rechtsprechung des EuGH auch das Image eines Produkts den Selektivvertrieb erfordern kann.[397]
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Höchstrichterlich ungeklärt ist allerdings noch die Frage, ob bereits hochwertige Markenprodukte – im Gegensatz zu „Luxusprodukten“ – einen selektiven Vertrieb rechtfertigen können. In diese Richtung tendieren die Europäische Kommission in einer jüngst veröffentlichen Stellungnahme, das OLG Hamburg sowie das OLG Karlsruhe.[398]
Rechtsprechungsüberblick – Selektivvertrieb bei Markenprodukten:
– | Die Europäische Kommission sowie das OLG Hamburg haben mit guten Gründen dargelegt, dass eine Differenzierung zwischen Produkten der Luxusklasse und hochwertigen Markenprodukten mit erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten verbunden und nicht sinnvoll durchführbar sei. Überdies bestehe auch bei hochwertigen Markenprodukten ein rechtlich anerkennenswertes Interesse des Herstellers, den Charakter des Produkts durch seine Marktpositionierung und besondere Vertriebsleistungen zu unterstreichen. |
– | Für die Praxis hat diese Auslegung den Vorteil, dass die Abgrenzung zwischen Luxusgütern und „einfacher“ (aber hochwertiger) Markenware entfiele.[399] Eine „griffige“ Definition von Luxus existiert gerade nicht. Dem Verständnis von Luxus wohnt stets ein subjektiv-wertendes und emotionales Moment inne. Greifbar werden die definitorischen Schwierigkeiten im Lichte der Rechtsauffassung des OLG Frankfurt, wonach es primär in der Entscheidungskompetenz des Markeninhabers liege, für bestimmte Marken einen Luxusanspruch zu formulieren und zu fördern.[400] |
– | Eine Gleichstellung von „Luxusware“ und hochwertigen Markenprodukten überzeugt: Das Image eines Produkts ist auch bei Markenware ein wertbildender Faktor, für den die Abnehmer zu bezahlen bereit sind.[401] Die Monopolkommission führt an, dass es ohnehin weniger um echte Luxuswaren gehe, die nur für eine kleine, besonders finanzstarke Kundschaft erschwinglich sind, als vielmehr um eine „Aura von Luxus“[402], mit der sich auch vergleichsweise günstige Produkte besonders vermarkten ließen.[403] Die Monopolkommission hält es nicht einmal für zwingend erforderlich, dass einem Produkt überhaupt ein Luxusimage anhaftet: Ein Lifestyle- oder Sportimage könne für den Verbraucher sogar vorzugswürdig sein.[404] |
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Die Selektionskriterien dürfen nicht über das zur Qualitätssicherung und Gewährleistung des richtigen Gebrauchs erforderliche Maß hinausgehen.[405] Sie müssen also in einem angemessenen Verhältnis zum jeweiligen Produkt stehen, um vom Kartellverbotstatbestand ausgenommen sein zu können.
Werden die Selektionskriterien schließlich im laufenden Geschäft nicht konsequent diskriminierungsfrei angewendet, etwa indem Händler aufgenommen werden, die bestimmte Kriterien nicht erfüllen, oder umgekehrt Händler nicht aufgenommen werden, obwohl sie allen Voraussetzungen gerecht werden, ist ein selektives Vertriebssystem grds. insgesamt nicht (mehr) vom Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgenommen und insoweit freistellungsbedürftig.
bb) Quantitativer Selektivvertrieb und sonstige Selektionskriterien
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Selektive Vertriebssysteme, die jedenfalls auch sog. quantitative Selektionskriterien enthalten, sind demgegenüber grundsätzlich vom Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst.[406] In ihren Vertikal-LL[407] nennt die Europäische Kommission Beispiele für quantitative Selektionskriterien:
– | Die Festsetzung von Mindest- oder Höchstumsätzen sowie die Begrenzung der Zahl zuzulassender Händler.[408] |
– | als indirekte Form des quantitativen Selektivvertriebs erachtet die Europäische Kommission die Verknüpfung qualitativer Kriterien mit der Vorgabe eines jährlichen Mindesteinkaufsvolumens der Händler; |
– | Mindestgröße von Geschäftsräumen, wie z.B. einer Mindestwerkstattkapazität; |
– | Koppelung der Anzahl an Verkaufsstätten/Werkstätten an die Einwohnerzahl oder Kaufkraft in einem Gebiet. |
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Auch der (rein) quantitative Selektivvertrieb wird von der Legaldefinition in Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal-GVO erfasst. Selektive Vertriebssysteme mit jedenfalls auch quantitativen Kriterien sind daher zwar tatbestandsmäßig i.S.d. Kartellverbots, aber nach der Vertikal-GVO freistellungsfähig. Insoweit besteht aber die Gefahr, dass der Rechtsvorteil der Gruppenfreistellung von der Kommission (nachträglich) entzogen wird.[409] De facto scheint diese „Gefahr“ aber eher theoretischer Natur zu sein: Seit Inkrafttreten der Vertikal-GVO 1999 ist kein entsprechender Fall bekannt geworden.[410]
c) Freistellung vom Kartellverbot
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Ein den „Metro“-Kriterien nicht genügendes selektives Vertriebssystem mit überschießenden oder nicht diskriminierungsfrei gehandhabten qualitativen oder quantitativen Kriterien ist gleichwohl zulässig, wenn es freigestellt ist. Grundsätzlich unterfallen selektive Vertriebssysteme als vertikale Vereinbarungen der Vertikal-GVO und sind daher freigestellt, wenn die Marktanteile der beteiligten Parteien nicht über 30 % liegen (Art. 3 Vertikal-GVO) und die Vereinbarung keine „Kernbeschränkungen“ i.S.v. Art. 4 Vertikal-GVO enthält. In diesen Fall bliebe noch die Möglichkeit einer Einzelfreistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV.
aa) Freistellung nach Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO
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Um in den Genuss einer Freistellung nach Art.