7. Wettbewerbsverbote und Ausschließlichkeitsbindungen im Überblick
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a) Überblick
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Selektive Vertriebssysteme sind dadurch gekennzeichnet, dass Hersteller nur solche Händler zum Vertrieb ihrer Ware zulassen, die bestimmte, im Vorfeld definierte Kriterien erfüllen. Herstellerseitiges Ziel des Selektivvertriebs ist vor allem, einen qualitativ hochwertigen Vertrieb z.B. mit Blick auf die Warenpräsentation, Beratung und sonstige Serviceleistungen zu gewährleisten und ihr Markenimage zu schützen. Weil selektive Vertriebssysteme Händler, die die Kriterien nicht erfüllen, vom Warenzugang abschneiden und zudem auch Pflichten für zugelassene Händler begründen, können sie den Wettbewerb beschränken. Bei der kartellrechtlichen Beurteilung selektiver Vertriebssysteme stellt sich zunächst die Frage, ob und wann ein selektives Vertriebssystem die Tatbestandsvoraussetzungen des Kartellverbots erfüllt (s. hierzu unter b). Ist dies der Fall, folgt die Frage nach der Freistellung (c), entweder gem. Art. 2 Abs. 1 Vertikal-GVO (aa) oder nach Art. 101 Abs. 3 AEUV (bb).
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Nach der Legaldefinition gem. Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal GVO sind „Selektive Vertriebssysteme“ „Vertriebssysteme, in denen sich der Anbieter verpflichtet, die Vertragswaren oder -dienstleistungen unmittelbar oder mittelbar nur an Händler zu verkaufen, die anhand festgelegter Merkmale ausgewählt werden, und in denen sich diese Händler verpflichten, die betreffenden Waren oder Dienstleistungen nicht an Händler zu verkaufen, die innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets nicht zum Vertrieb zugelassen sind“. Die Legaldefinition erfasst nur sog. „geschlossene Vertriebssysteme“, in denen die Vertragsware nicht an nicht zugelassene Händler abgegeben werden darf. Daneben werden zwar auch andere Formen des Selektivvertriebs praktiziert, für die die Vertikal-GVO grundsätzlich ebenso gilt. Die besonderen Regelungen der Vertikal-GVO für selektive Vertriebssysteme hingegen finden lediglich auf geschlossene Systeme i.S.d. Legaldefinition Anwendung.[371]
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Bei der Feststellung, ob ein selektives Vertriebssystem i.S.v. Art. 1 Abs. 1 lit. e Vertikal-GVO vorliegt, sind insbesondere zwei Gesichtspunkte von Bedeutung: Zunächst liegt ein selektives Vertriebssystem i.S.d. Vertikal-GVO nur dann vor, wenn Anbieter (Hersteller/Lieferant) und Abnehmer (Händler) wechselseitige Verpflichtungen eingehen. Im Selektivvertrieb sind nicht nur Händler, sondern auch Anbieter verpflichtet, die Vertragsware nur an Mitglieder des selektiven Vertriebssystems zu verkaufen.[372] Systeme, in denen nur den Händlern Vertriebsbindungen auferlegt werden, erfüllen nicht die Anforderungen der Legaldefinition.[373] Bei der vertraglichen Gestaltung von selektiven Vertriebssystemen sollte daher ein geschlossener Ansatz gewählt werden, wenn nicht auszuschließen ist, dass es der Freistellung vom Kartellverbot bedarf.[374]
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Weiterhin ergibt sich aus dem Passus „innerhalb des vom Anbieter für den Betrieb dieses Systems festgelegten Gebiets“, dass es dem Anbieter grundsätzlich freisteht, seine Waren (nur) teilweise im Rahmen eines selektiven Vertriebssystems, teilweise aber auch im herkömmlichen Vertrieb zu vermarkten.[375] In der Praxis findet sich die parallele Verwendung selektiven und sonstiger Vertriebssysteme etwa beim Vertrieb von Markenbekleidung: Während Hersteller die aktuelle Kollektion regelmäßig ausschließlich über zugelassene Händler im Wege des (qualitativen) selektiven Vertriebs verkaufen, werden Standardprodukte und (Rest-)Ware aus vorherigen Kollektionen über Outlets und Kaufhäuser regulär vertrieben.[376]
b) Anwendbarkeit von Art. 101 Abs. 1 AEUV
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Die Tatbestandsmäßigkeit selektiver Vertriebssysteme nach Art. 101 Abs. 1 AEUV hängt davon ab, ob diese als rein qualitativer Selektivvertrieb ausgestaltet sind oder auch quantitative Selektionskriterien enthalten. Nach der ständigen Entscheidungspraxis der Unionsgerichte[377] sowie der Europäischen Kommission[378] fallen rein qualitative Selektivvertriebssysteme, sowie auch qualitativ selektive Reparatur- und Kundendienstsysteme, mangels wettbewerbswidriger Auswirkungen unter drei Voraussetzungen (sog. „Metro-Kriterien“)schon nicht unter das Verbot des Art. 101 Absatz 1 AEUV.[379] Damit ein selektives System zulässig ist, muss sowohl das Vertriebssystem in seiner Gesamtheit als auch jede einzelne Klausel diesen Anforderungen gerecht werden (sog. „Doppelkontrolle“).[380]
aa) Qualitativer Selektivvertrieb („Metro“-Kriterien)
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Nach den „Metro-Kriterien“ ist ein selektives Vertriebssystem unter folgenden Voraussetzungen nicht tatbestandsmäßig:
– | Die Auswahl der Händler muss anhand objektiver Kriterien qualitativer Art erfolgen, die einheitlich festzulegen, allen potenziellen Wiederverkäufern zur Verfügung zu stellen und unterschiedslos anzuwenden sind.[381] |
– | Die Produkteigenschaften müssen einen selektiven Vertrieb bedingen, d.h. der Selektivvertrieb muss zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der Produkte erforderlich sein. |
– | Die Selektionskriterien dürfen schließlich nicht über das zur Qualitätssicherung und Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der jeweiligen Produkte erforderliche Maß hinausgehen. |
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Beispiele: qualitative Selektionskriterien
– | Zu prima facie unbedenklichen, qualitativen Selektionskriterien zählen insbesondere sämtliche Bedingungen, die die Aufrechterhaltung des Fachhandels bezwecken.[382] Dies umfasst etwa die Kundenberatung durch qualifiziertes Personal, dessen fortlaufende Schulung, eine angemessene Ausstattung und Erscheinung der Geschäftsräume, eine angemessene Warenpräsentation oder die Fähigkeit, bestimmte Garantie- und Kundendienstleistungen anbieten zu können.[383] |
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Die Selektionskriterien müssen zur Wahrung der Qualität und zur Gewährleistung des richtigen Gebrauchs der Produkte erforderlich sein.[384] Entscheidend dürfte insoweit sein, dass plausibel dargelegt werden kann, dass die Produkte aufgrund ihrer Charakteristika händlerseitige Zusatzleistungen erfordern, die die Kundenbedürfnisse sinnvoll adressieren.[385]
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Zunächst ist ein sich aus der Natur des Produkts ergebendes Bedürfnis für eine qualitative Selektion bisher insbesondere für langlebige, hochwertige und technisch anspruchsvolle Erzeugnisse anerkannt worden: Der EuGH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass derartige Produkte ein qualitatives selektives Vertriebssystem rechtfertigen können, weil die qualitative Beratung des Kunden einen Mehrwert begründet, der bei „Allerweltsprodukten“, die ohne vertiefte Auseinandersetzung erworben werden, nicht gegeben ist.[386]
Beispiele: Produkte,