242
Damit seine Beschwerde die Hürde der „offensichtlichen Unbegründetheit“ sicher nimmt, muss der Bf. den behaupteten Konventionsverstoß und die ihn stützenden Tatsachen sowie seine rechtlichen Ausführungen klar strukturiert, nachvollziehbar und vor allem substantiiert geltend machen.
243
Die Entscheidung, in der eine Beschwerde als offensichtlich unbegründet und daher unzulässig eingestuft wird, ist wie jede andere Entscheidung des Gerichtshofs über die Zulässigkeit der Beschwerde unanfechtbar. Die Begründung der ablehnenden Entscheidung beschränkt sich mitunter auf eine knappe Pauschalformel,[270] die als sog. „global formula“ auch benutzt wird, wenn dadurch andere Fragen der Zulässigkeit mit abgedeckt werden sollen.[271]
244
In Einzelrichterentscheidungen findet sich meist nur die Formulierung: „[…] dass der Gerichtshof entschieden hat, die Beschwerde für unzulässig zu erklären“ oder „Soweit die Beschwerdepunkte in seine Zuständigkeit fallen, ist der Gerichtshof der Gerichtshof aufgrund aller zur Verfügung stehenden Unterlagen zu der Auffassung gelangt, dass die in Artikel 34 und 35 der Konvention niedergelegten Voraussetzungen nicht erfüllt waren“.
245
Solche inhaltsleeren Begründungen, die nicht einmal den speziellen Grund der „Unzulässigkeit“ einer Beschwerde näher aufschlüsseln, bewegen sich an der Grenze der Rechtsstaatlichkeit und sind auch vor dem Hintergrund einer enormen Arbeitsbelastung des Gerichtshofs (Rn. 28 ff.) menschenrechtlich nicht akzeptabel. Ein Rechtsbehelf gegen diese Unzulässigkeitsentscheidungen steht gleichwohl nicht zur Verfügung, worauf der EGMR in seinem „Pauschal-Schreiben“ auch sehr deutlich hinweist (unter Ablehnung jeder weiteren Korrespondenz).
246
Ebenso wie die Urteile haben auch die – bisher meist durch einen Ausschuss, künftig aber sicherlich auch immer häufiger von Einzelrichtern, ergehenden – Entscheidungen über die Einstufung einer Beschwerde als offensichtlich unbegründet trotz fehlender Bindungswirkung faktisch eine erhebliche Aussagekraft, weil sich in ihr ebenfalls Tendenzen und Strukturen bezüglich der Auslegung einzelner Konventionsgarantien abzeichnen.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › XI. Rechtsschutzbedürfnis/Missbrauch des Beschwerderechts
XI. Rechtsschutzbedürfnis/Missbrauch des Beschwerderechts
247
Ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis ist für Individualbeschwerden grundsätzlich nicht erforderlich. Insbesondere hängt die Zulässigkeit der Beschwerde (vgl. aber jetzt Rn. 2.) Vgl. aber zum „mehrheitlichen Nachteil“ Rn. 252 ff. nicht von einer gesondert festzustellenden Schwere der behaupteten Konventionsverletzung ab.)
248
Weder die EMRK noch die Rules of Court sehen die Verhängung einer Gebühr als Sanktion für die missbräuchliche Einlegung einer Beschwerde vor. In Extremfällen kann der Gerichtshof eine Individualbeschwerde jedoch für unzulässig erklären, wenn sie einen Missbrauch des Beschwerderechts erkennen lässt (Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK). Ein Missbrauch des Beschwerderechts kann in einem Prozessverhalten (formeller Missbrauch) des Bf. liegen, aber auch in einem von dem Bf. verfolgten Zweck (materieller Missbrauch).[272] Ein formeller Missbrauch liegt etwa vor, wenn der Bf. bewusst wahrheitswidrige Tatsachen vorträgt (knowingly based on untrue facts)[273], entscheidungsrelevante Tatsachen verschweigt oder unvollständige und damit irreführende Angaben, insb. zum Verfahrensgang macht; unvollständige, irreführende Angaben können vor allem dann als missbräuchlich iSv Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK eingestuft werden, wenn sie den Kern der Rechtssache betreffen und nicht hinreichend, d.h. plausibel erläutert worden ist, warum diese Auskunft nicht erteilt worden ist.[274]
249
Missbräuchlich ist auch die Beleidigung von Mitgliedern des Gerichtshofs (dazu zählen auch die Mitarbeiter der Kanzlei)[275] bzw. die Äußerung unangemessener Kritik (contempt of court)[276].
250
Auch Verstöße gegen die Verfahrensordnung können dazu führen, dass eine Beschwerde als missbräuchlich eingestuft wird, etwa wenn gegen das Gebot der Vertraulichkeit der Verhandlungen über eine gütliche Einigung verstoßen wird.[277]
251
Schließlich kann der mit einer Beschwerde verfolgte Zweck diese als missbräuchlich erscheinen lassen (materieller Missbrauch): Missbräuchlich in diesem Sinne ist der offensichtlich zweckwidrige Einsatz des Beschwerderechts, der die ordnungsgemäße Arbeit des EGMR sowie den geordneten Ablauf des Verfahrens selbst behindert.[278] Das kann etwa dann der Fall sein, wenn eine gefälschte Vollmacht vorgelegt wird,[279] ebenso wenn die Inanspruchnahme internationalen Rechtsschutzes in einem Missverhältnis zum geltend gemachten Interesse steht[280] oder die Beschwerde ausschließlich zu Propaganda- oder Reklamezwecken eingelegt wurde.
Teil 1 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte › B. Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Individualbeschwerde › XII. Unerheblicher Nachteil
XII. Unerheblicher Nachteil[281]
252
Eine Beschwerde kann seit dem Inkrafttreten des 14. P-EMRK auch als unzulässig eingestuft werden (Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK), wenn der Bf. keinen erheblichen Nachteil erlitten hat (significant disadvantage), der Fall bereits von einem nationalen Gericht gebührend geprüft wurde (duly considered; diese Voraussetzung wird nach Inkrafttreten des 15. Protokolls zur EMRK gestrichen) und keine menschenrechtliche Besonderheiten aufweist (unless respect for human rights … requires an examination). Damit wurde auf Zulässigkeitsebene neben der Feststellung einer offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde eine weitere Möglichkeit der materiellen Filtrierung eingeführt.[282]
253
Der Begriff des „erheblichen Nachteils“ enthält einen beträchtlichen Interpretationsrahmen, der dem Gerichtshof mehr Flexibilität bei der Zulässigkeitsprüfung ermöglichen soll. Seiner Rechtsprechung obliegt es daher auch, diesem Begriff Konturen zu geben. In dieser Hinsicht ist auf die Übergangsvorschrift in Art. 20 Abs. 2 des 14. P-EMRK hinzuweisen. Danach soll Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK in den ersten beiden Jahren nach Inkrafttreten des Protokolls nur von den Kammern und der Großen Kammer angewandt werden, damit diese konkrete