«Er hat halt Freude an den Soldaten», erklärte sie. «Ich bin ihm vorausgegangen, aber er hat mich rascher eingeholt, als ich dachte. Er ist bei uns Knecht.»
«Knecht? Da habt Ihr Euch einen rechten ausgesucht!»
«Ja, was wollt Ihr, wenn alles Mannenvolk im Militärdienst ist? Ich möchte ihn ja am liebsten wieder fortschicken, er ist ein Dreckfink und nicht immer gutartig, manchmal muss ich fast Angst vor ihm haben. Aber er kann tränken, misten, Holz scheiten und trägt mir die Ware vom Dorf herauf. Jetzt hat er ordentlich geladen, weil wir ein paar Tage lang nicht mehr hinuntergehen … eben wegen der Laui.»
«Aber wenn sie kommt, so fährt sie doch unter der Brücke durch das Tobel hinab?»
«Das schon, aber trotzdem ist man auf der Brücke nicht sicher …» Und die Bäuerin erklärte dem Soldaten, dass nach den Erfahrungen der Anwohner eine Staublawine niedergehen könnte.
Der Soldat blickte den Berg hinan, aber da ließ sich heute nur ein wenig vom unregelmäßig bewaldeten, durch das Flockengewirbel verschleierten nahen Steilhang sehen. Der Berg war über der Brücke mit einem lückenhaften Wald umgürtet, dann stieg er mit spärlich gegliederten kahlen Hängen noch zweitausend Meter hoch hinauf. Durch die breiteste Waldlücke fuhr im Frühling die Grundlawine oberhalb der Brücke in die Schlucht hinab, staute den Bach und trieb den Schneekegel zwischen den granitenen Brückenpfeilern durch, ohne Schaden anzurichten. Jetzt aber hatte seit drei Tagen und Nächten der immer noch andauernde Wintersturm den Berg mit trockenem Schnee überhäuft, der an den obersten Steilhängen den Halt zu verlieren und mitsamt den lockeren Massen der unteren Hänge durch den alten Lawinenzug hinabzustürzen drohte, doch eben nicht als schwere, schürfende Grundlawine, sondern als haltlos rasende Staublawine, die auf ihre berüchtigte Art die Luft unwiderstehlich vor sich her fegen, Tannen knicken und auf der Brücke einen Eisenbahnwagen umlegen konnte, noch eh der anbrausende Schnee auch nur die Pfeiler umbrandete.
«Übermorgen werden wir abgelöst», sagte der Soldat, «vielleicht wartet die Laui noch so lange, und sonst leg ich mich halt auf den Bauch, dann kann sie mir blasen.»
«Übermorgen?», fragte die Bäuerin und sah enttäuscht aus, dann wiederholte sie die Warnung mit einem so warmherzigen Eifer, dass der Soldat beim Abschied ihre Hand nun nicht gleich losließ.
Die Bäuerin fasste auch ihrerseits fester zu. «Kommt einen Augenblick da hinüber!», bat sie und zog ihn von der Brücke weg.
«Warum nicht!», sagte der Soldat. «Hier könnte man uns vom Posten aus noch sehen, und dann würden sie weiß der Teufel was für eine Geschichte draus machen.»
Die Bäuerin aber watete nach wenigen Schritten zu einem verschneiten eisernen Kreuze, wischte den Schnee von der daran angebrachten Tafel und wies schweigend auf die Schrift hin.
Der Soldat las, nicht zum ersten Mal, dass an dieser Stelle vor zwei Jahren der dreiundzwanzigjährige Josef Mattli tödlich verunglückt sei.
«Das ist mein Mann selig», erklärte die Bäuerin leise. «Er war auf dem Heimweg aus dem Militärdienst und wurde hier vom Luftdruck der Laui ins Tobel hinuntergeworfen. Nur sein Gewehr lag noch da.»
Der Soldat blickte zwischen der Tafel und der Frau verwundert hin und her und wusste nicht gleich etwas zu sagen.
«Nur damit Ihr seht, dass eine Staublawine hier keinen Spaß macht!», erklärte sie, trat vom Kreuze weg und lächelte wieder.
Jetzt schaute der Soldat sie mit andern Augen an. «O ich Esel!», sagte er leise, schob sich liederlich den Helm in den Nacken, sodass sein ganzes verdutztes Gesicht zu sehen war, und wandte keinen Blick von der halb verlegenen, halb belustigten jungen Witfrau. Plötzlich steckte er da, wo er stand, pflichtvergessen sein Gewehr mit dem Kolben in den tiefen Schnee, trat auf die Bäuerin zu und fasste sie an beiden Armen. Gedämpft, aber eindringlich, mit fester Stimme, sagte er: «Heut Nachmittag hab ich meinen letzten Ausgang gehabt. Ich muss noch einmal auf Patrouille und zweimal hier Schildwach stehen, dazwischen bin ich auf Pikett und kann nicht weg. Und Ihr wollt nicht mehr herunterkommen?» Da sie schwieg, rief er: «Am liebsten käm ich grad jetzt mit Euch heim.»
«Da wär Euer Leutnant aber nicht zufrieden, oder?»
«Nicht zufrieden? Jaha, wenn’s nur das wäre! Aber ich frage ihn, ob er mir nicht doch noch einen Ausgang bewilligt … Wie weit ist’s von hier zu Euch hinauf?»
«Zehn Minuten. Ich hab untertags aber viel zu tun, und nachts würde Euch niemand den Weg zu uns zeigen.»
Sie berieten eine Weile, erwogen diese und jene Möglichkeit, küssten sich dann zum Abschied und standen in der anbrechenden Dämmerung noch lange fest umschlungen da, während der Schneesturm sie lose wie mit einem weißen Bettlaken umhüllte, nicht fester als die flüchtige Gelegenheit es versprach, die sie im Kopfe hatten. –
Der Soldat wurde abgelöst und kehrte hinter dem Korporal auf den Posten zurück, wo er den Leutnant sofort um Bewilligung eines zweistündigen Ausgangs bat. Da er keinen triftigen Grund angeben konnte und der Posten bei dem durch Urlaube geschwächten Bestand der Kompagnie nur ungenügend besetzt war, bekam er die Bewilligung nicht. Er schwieg einen Augenblick mürrisch, dann warf er mit einem Unterton des Widerspruchs die Bemerkung hin: «Die Einheimischen hier sagen alle, das sei ja Gott versucht, wenn man jetzt da oben noch Schildwachen stelle und patrouilliere.»
«Schelbert», erwiderte der Leutnant zurechtweisend, «darüber entscheide ich allein, solang kein anderer Befehl kommt, verstanden?»
«Zu Befehl, Herr Leutnant!», rief Schelbert, die Absätze zusammenklopfend, und schien sich fortan, etwas unzufriedener, wortkarger, doch selbstverständlich mit dem strengen Wachdienst wieder abzufinden, bis sein Schicksal ihn auf die merkwürdigste Art außer Reih und Glied warf.
Am folgenden Morgen trat der Leutnant aus der frisch verschneiten Baracke, an der untersten rechtsufrigen Schluchtrampe, auf den ebenen Platz hinaus, immer noch hoch über der Mündung des Bergbaches in den Fluss des engen Haupttals, und blickte zur Brücke hinauf, wo Schelbert von sieben bis neun wieder Schildwach stand. Er sah ihn dort oben, ohne ihn auf diese Entfernung erkennen zu können, und dachte an seine Bemerkung von gestern Abend, die er dem etwas leichtfertigen, aber sonst tüchtigen Burschen nicht allzu übelnahm, obwohl die Mannschaft seither von der Gefahr schon offener munkelte. Der Schneesturm hatte da unten aufgehört und die Sicht auf den Berg über der Brücke freigegeben, doch in der Höhe blies er weiter und stäubte den lockeren Schnee wie Rauchfahnen von den obersten Gratwächten weg. Die Lawinengefahr bestand also weiter. Man war aber im Dienst, um eine Aufgabe auch dann zu erfüllen, wenn es gefährlich wurde. Hier war noch dies und jenes gefährlich, und man tat es dennoch. Zudem konnte die Schildwache da oben eine Lawine bei dieser Sicht schon von weitem erkennen und von der Brücke wegspringen, um sich geschützt an die Bahnrampe zu legen. Überhaupt, wie konnte man sich aus solchen Gefahren etwas machen, wenn man auch nur einen Augenblick an das stündlich bedrohte Leben der Soldaten fast aller andern Armeen in diesem mörderischen Kriege dachte!
Der Leutnant beschloss, die unregelmäßig auszuführende Tagespatrouille jetzt abzuschicken und sie mitzumachen, er bestimmte zwei Mann dafür und stieg mit ihnen, da es auf neun Uhr ging, hinter der Ablösung her zur Brücke hinauf. Eine Frau ging von Schelbert weg, als er abgelöst wurde, und der Leutnant fragte ihn nach ihr. Er antwortete wahrheitsgemäß, das sei eine Bäuerin von da oben, die häufig hier durchkomme und jetzt heimgehe. «Trotz der Lawinengefahr!», bemerkte der Leutnant. Schelbert schwieg. «Kommen Sie gleich mit auf Patrouille, Schelbert!», befahl der Leutnant. «Sie stehen für heute auf der Liste.»
«Zu Befehl!», rief Schelbert und hing sich unwirsch das Gewehr an.
Der Leutnant ging den Dreien voran auf die Brücke hinaus, wobei er den schmalen eisernen Laufsteg zwischen Geländer und Geleise unter den zugewehten gestrigen Stapfen im Schnee nur erraten konnte und zweimal zwischen Steg und äußeren Holzbohlen ein gähnendes Loch eintrat, das wohl einen Absatz klemmen und den