Die Suchmannschaft kam in die Nähe der kirchturmhohen Brückenpfeiler und wollte die Hoffnung schon aufgeben, als das Unglaublichste geschah. Aus dem Pulverschnee am linken Schluchthang arbeitete sich mit müden Bewegungen ein weiß überstäubter Mann an den Rand der Lawinenmasse hinauf, und der Mann war – die Leute, die ihn entdeckten, rannten, seinen Namen schreiend, zu ihm hinab –, der Mann war Schelbert.
Er stand da, als seine Kameraden ihn umringten und der Leutnant vor ihn hintrat, blickte sie mit verstörten Augen an und schien die Sprache verloren zu haben.
«Schelbert», sagte der Leutnant, «jetzt fange ich an zu glauben, dass Sie einen Schutzengel haben. Ist doch das reinste Wunder, dass Sie noch leben!»
Schelbert blickte ihn an und schwieg.
«Er ist noch nicht ganz beisammen», sagte einer seiner Kameraden leise. «Vielleicht ist er auf den Kopf gefallen.»
Sie suchten ihn dadurch zu wecken, dass sie alles erzählten, was sie gesehen hatten, und ihm Einzelheiten in Erinnerung riefen. Sie sagten ihm, dass er als Schildwache da oben die Lawine zu spät bemerkt habe, dass er beim Fortrennen gestolpert, hingefallen und gleich nach dem Aufstehen vom Luftdruck über das Geländer hinaus geschleudert worden sei. «Wir haben doch jetzt die ganze Lawine nach dir abgesucht, wir dachten, du seiest mausetot.»
Schelbert schwieg noch immer, hörte aber jetzt so angestrengt zu, als ob er wirklich versuchte, sich das alles in Erinnerung zu rufen.
«Sie haben beim Sturz wahrscheinlich das Bewusstsein verloren», erklärte der Leutnant. «Aber vielleicht fällt Ihnen doch dies und jenes noch ein. Es wäre interessant zu wissen, wie und wo Sie gelandet sind … vermutlich doch weiter unten, oder? Und dann sind Sie, bevor wir kamen, da hinaufgegangen?»
Schelbert machte eine Kopfbewegung, die man für ein Ja nehmen konnte.
«Vielleicht wollten Sie Helm und Gewehr suchen, die haben Sie beim Sturz doch verloren, nicht?»
«Helm und Gewehr?», fragte er nun dumpf und dachte einen Augenblick nach. «Die muss ich vielleicht da oben suchen.»
«Auch möglich. Sie wurden ja nur so herumgewirbelt, das hat man gesehen. Aber der Luftdruck muss Sie nicht nur hochgenommen, sondern nachher getragen und glimpflich abgesetzt haben … oder Sie sind von einer Art Unterströmung, die unter der Brücke durchkam, aufgefangen worden … Verstehen kann man es nicht, es scheint ganz unglaublich. Aber die Hauptsache ist, dass Sie davongekommen sind.»
Damit schickte er ihn mit den übrigen Leuten in die Baracke zurück und ging der Reservemannschaft entgegen, die mit Pickeln und Schaufeln durch die Schlucht heraufkam. Er traf seinen Hauptmann dabei, erstattete Meldung und hatte Mühe, ihm das Vorgefallene glaubhaft zu machen. Die Mannschaft wurde auf dem kürzesten Weg zur Brücke hinaufgeführt, wo sie die hoch überpulverten Geleise auszuschaufeln hatte. Die untere Station schickte einen Reparaturwagen mit Arbeitern, die den Strom ausschalteten und die von verbogenen Trägern herunterhängende Fahrleitung zu flicken begannen.
Schelbert wich allen Fragen aus, er blieb schweigsam, nachdenklich, ja bedrückt, wie ein Mensch, der etwas Schweres zu ertragen hat, ohne es verstehen zu können. Aber plötzlich verlangte er, seinem Leutnant und dem Herrn Hauptmann eine Aussage zu machen. Er wurde in die Barackenkammer des Wachtkommandanten gewiesen, nahm beim Eintritt der beiden Offiziere mit finsterer Miene stramm Stellung an und gestand, dass er ein schweres Wachtvergehen zu bekennen habe. Der Hauptmann bat den Leutnant, ein Protokoll aufzunehmen, und das Verhör begann.
Schelbert erzählte, wie er als Schildwache bei der Brücke jene Bäuerin kennengelernt habe, eine junge Witwe, und sie gern vor der Ablösung noch daheim besucht hätte. Er habe vom Leutnant keine Bewilligung zum Ausgang mehr erhalten, aber sich nicht damit abfinden können. Die Bäuerin sei dann gestern noch einmal zur Brücke herabgekommen, da hätten sie zusammen einen Plan gemacht, und genau nach diesem Plane habe er heute Morgen seinen Schildwachposten verlassen und die Zeit bei der jungen Bauernfrau verbracht.
Der Leutnant schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und blickte den Geständigen verblüfft an, der Hauptmann bemerkte sehr ernst, ein solcher Fall werde nicht disziplinarisch erledigt werden können, sondern vor Divisionsgericht kommen.
Schelbert nahm dies ruhig hin und fuhr unbeirrt in seinem Berichte fort. Daraus ging hervor, dass er sich vom Korporal um sieben Uhr als Schildwache bei der Brücke aufführen ließ, jedoch schon mit der Absicht, nicht hier stehen zu bleiben. Kaum war der Korporal verschwunden, als die junge Frau mit ihrem halb verblödeten Knecht über den Steg kam. Der Knecht war als Soldat verkleidet, er trug die Uniform und Ausrüstung ihres verunglückten Mannes, der vor zwei Jahren an dieser Stelle vom Lawinenwind in die Schlucht hinuntergefegt worden war. Sie sagten ihm, dass er hier nun Schildwach stehen müsse, bis Schelbert zurückkehre, sie schärften ihm ein, wie er sich zu verhalten habe, um nicht aufzufallen, und warnten ihn auch vor der Lawine wie vor den Zügen. Der armselige Mensch, der hier schon mancher Schildwache neugierig grinsend zugesehen hatte, stellte sich gelehrig an und begann den Dienst, erfüllt vom Gefühl seiner Wichtigkeit, mit kindischer Freude. Schelbert und die Frau aber stiegen eilig zu dem nahen Heimwesen hinauf. Während sie noch beisammen waren, hörten sie am gegenüberliegenden Berghang die Staublawine niedergehen. Sie rannten zur Brücke hinab, suchten den verkleideten Knecht und fanden ihn nicht mehr. Schelbert stieg ins Tobel hinunter, um dort nach der Leiche zu suchen, und wurde dabei von der Suchmannschaft des Wachtpostens entdeckt. Von ihr erfuhr er das Geschehene, und weil dabei nur von seiner eigenen wunderbaren Rettung die Rede war, konnte er in seiner Verwirrung die Wahrheit nicht gleich sagen.
Dies war sein Bericht. Das Protokoll wurde ihm vorgelesen, er unterschrieb es und bat am Ende, dass man doch jetzt den Verunglückten in der Schlucht suchen möge. Der Hauptmann versprach, die verlangten Leute vom Lawinendienst mit den Sondierstangen und dem Hunde sofort an die Arbeit zu schicken.
«Schelbert, Sie wissen offenbar, was Sie getan haben», schloss der Hauptmann. «Das Divisionsgericht ist streng und wird Sie zu einer schweren Strafe verurteilen. Dass Sie aber aus eigenem Antrieb bekannt haben und also die Strafe auf sich nehmen wollen, wird als Milderungsgrund sehr ins Gewicht fallen. Ich meinerseits verzichte besonders aus diesem Grunde, Sie hier sogleich einzusperren. Sie gehen jetzt zu Ihrem Zuge zurück!»
«Zu Befehl, Herr Hauptmann!», rief Schelbert, und dann bemerkte er noch, mit demselben schweren Ernst, den er während seiner ganzen Aussage bewahrt hatte, Helm und Gewehr seien noch dort oben bei der Frau, er habe in der Hast vergessen, sie mitzunehmen.
Der Hauptmann fragte den Leutnant, dann Schelbert, ob von seinem Zuge einer das Heimwesen kenne, und da man keinen wusste, entschied er, dass Schelbert selber Helm und Gewehr hole.
So kam es, dass vor der Ablösung der Kompagnie der verwandelte Soldat und die mitschuldige junge Frau einander noch einmal trafen. Was sie dabei besprachen und was sie vorher zusammen erlebt hatten, kam erst bei den Verhandlungen vor Divisionsgericht an den Tag. Bis dahin bewahrte Schelbert ein Schweigen, das nichts preisgab als den bloßen Tatbestand. Am Vorabend aber gelang es dem menschlich erfahrenen Verteidiger, dem spröden Burschen Geständnisse zu entlocken, die seine zwar offenbare, aber doch nicht ganz durchsichtige innere Wandlung erklärten und begründeten.
Er hatte, wie er beschämt und ungeschickt gestand, bei der jungen Bäuerin mehr gefunden als das gesuchte flüchtige Vergnügen, nämlich das, was einem so leichtsinnigen