Schneesturm im Hochsommer. Meinrad Inglin. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Meinrad Inglin
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038552369
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auch nur den leisesten Krach gehabt, bevor diese schöne Gans darauf verfallen ist, uns ausgerechnet hier mit ihrem blöden Geschnatter zu beglücken?»

      In diesem Augenblick, während Xaver und Robert dem Erzürnten schon dreinredeten, geschah etwas, das alle verstummen ließ. Anselm gab Karl eine Ohrfeige.

      Karl blickte seinen Kameraden, den er gernhatte, fassungslos an und sagte kein Wort mehr. Er stand wie gelähmt da, entwaffnet vor Trauer und Verwunderung, dann wandte er sich langsam ab und begann die Angelrute einzuziehen.

      Xaver trat zu Anselm, der aufgeregt war, doch über seine Tat auch selber ein wenig erschrocken schien, und sagte leise: «Das wäre nicht nötig gewesen.»

      «Xaver, ich muss mit dir reden», entgegnete Anselm und zog ihn am Arm beiseite, ins Gebüsch hinein. «Ich kann nicht mehr dulden, dass Ilse beleidigt wird, von jetzt an nicht mehr, verstehst du?»

      «Ach was! Ilse ist ein harmloser Backfisch, und den Karl kennen wir ja; wenn er sie nicht mag und darüber rhetorisch wird, so ist das noch kein Grund für dich, den Ritter zu spielen und ihn zu ohrfeigen.»

      «Aber du, es ist mir ernst mit Ilse, es ist keine Spielerei, das muss ich dir sagen …»

      «Hör auf! Sie ist fünfzehn, und du bist sechzehn … was heißt da ernst?»

      «Das Alter spielt keine Rolle, man kann warten …»

      Xaver blickte seinen ergriffenen Freund belustigt an und schüttelte den Kopf, dann fragte er mit nachdenklich heiterer Miene: «Und wenn nun ich gewisse Ansprüche auf sie hätte?»

      «Dann», sagte Anselm rasch, mit einer edelmütigen Aufwallung, «dann trete ich zurück.»

      «Alle Achtung!», erwiderte Xaver lachend. «Aber ich bin nicht sicher … und sie vermutlich auch nicht. Geh du jetzt nur wieder zu ihr und schau, dass sie dich ein bisschen für die Ohrfeige belohnt. Ich überlasse sie dir, sie ist ein Schatz.» Er nickte freundlich und ging.

      Anselm kehrte ziemlich verwirrt und unsicher zu Ilse ­zurück, die ihm mit großen, bang fragenden Augen ein paar Schritte entgegenkam. «Es ist in Ordnung», sagte er, «dieser Bursche wird Sie nicht mehr beleidigen.»

      Da streckte sie ihm zaghaft ihre Hand hin und sagte mit einem vertrauensseligen Lächeln: «Ich danke Ihnen!»

      Er nickte gerührt, hielt ihre schmale kleine Hand einen Augenblick mit sanftem Druck in seiner Rechten, von neuer Wärme durchströmt, und begann dann entschlossen wieder zu fischen.

      Ilse setzte sich an den Uferhang und sah ihm abermals zu, bald schweigend, bald harmlos plaudernd, als ob sie nun wieder beruhigt wäre, aber sie merkte, dass seine Haltung um einen Hauch kühler geworden war, und sann darüber nach, ob sie sich vielleicht nicht ganz richtig benommen habe. Anselm sah bald Karl vor sich, der sich stumm und trau­rig von ihm abwandte, bald rätselte er an Xavers Andeutungen herum, die ihn beunruhigten, doch war er entschlossen, nichts davon merken zu lassen.

      Nachdem so eine Stunde still vergangen war, fühlte sich Ilse wieder am Nacken gekitzelt, sie warf sich herum, sprang auf und stand vor Robert, der mit seinen warmen Händen wie zur Abwehr ihre Oberarme erfasste, doch vorsichtigerweise gleich wieder losließ. Heiter, blühend und unternehmungslustig stand er in seiner brennend roten dürftigen Hose vor ihr und überrumpelte sie mit dem Vorschlag: «Kommen Sie mit mir, Fräulein Ilse, ich rudere Sie zum Waldufer hinüber, dort können Sie doch endlich baden, in einer Viertelstunde sind wir dort.»

      «O ja, fein!», rief Ilse lebhaft, wie es ihr eben einfiel, und erst dann stutzte sie und blickte Anselm an.

      «Du erlaubst doch, Anselm!», sagte Robert, als ob es wirklich schon ausgemacht wäre, dass Anselm so etwas zu erlauben hätte.

      «Bitte!», antwortete Anselm. Da Ilse sich so rasch und lebhaft entschieden hatte, blieb ihm nichts übrig als kühle Großmut, auch wenn sie noch so bitter schmeckte.

      «Ich bleibe nicht lange, ich komme bald zurück», rief Ilse noch tröstlich, dann ließ sie den Fischer stehen und ging mit Robert.

      Anselm spürte eine heiße Röte im Gesicht. Jedem anderen Kameraden hätte er Ilse ohne Bedenken anvertraut, nur diesem nicht. Ihm fiel ein, wie Robert über sie gesprochen, mit welchen Augen er sie angesehen hatte, und er erschrak beim Gedanken, dass die beiden nun da drüben am einsamen Waldufer … Er dachte es gar nicht zu Ende, er warf die Angelrute hin und lief zur Schifflände.

      Ilse wollte eben ins Boot steigen, und Robert half ihr angeregt dabei.

      «Ich hab’ es mir anders überlegt», rief Anselm und trat entschlossen hinzu. «Ich fahre selber mit Fräulein Ilse hinüber.»

      Robert vertrat ihm den Weg, gespannt, aber heiter noch, und entgegnete unnachgiebig: «Nichts da! Fräulein Ilse fährt mit mir, das haben wir so ausgemacht.»

      Anselm ging nicht darauf ein. «Sei so gut!», sagte er und wollte Robert beiseiteschieben, um ans Boot zu gelangen, aber Robert ließ sich nicht verdrängen, er wurde auf einmal zornig, und beim nächsten Atemzug standen sich die zwei Freunde gegenüber, als ob sie einander wütend anfallen wollten.

      «Ach, bitte, streiten Sie doch nicht!», rief Ilse. «Ich bleibe da, ich bleibe ganz bestimmt da, ich will nicht hinüberfahren.»

      Hinter ihnen im Gebüsch ging Xaver vorbei. «Ja, es ist vielleicht am besten, wenn du dableibst, Ilse», rief er und hielt einen Augenblick an. «Es sieht ein bisschen gewitterhaft aus, und du mit deiner Gewitterangst … Wenn du etwa plötzlich heimfahren möchtest und bist noch da drüben, dann geht das nicht so rasch.» Damit schlenderte er gelassen weiter.

      Ilse drehte den hitzig entzweiten Freunden den Rücken und lief ihrem Vetter nach. «Du, wenn du wirklich meinst, dass ein Gewitter kommt, dann wollen wir doch gleich wegfahren», sagte sie ängstlich.

      «Vorläufig ist keine Gefahr», erwiderte er. «Wir bleiben noch.»

      «Ja, nur … mir ist etwas unbehaglich, ich möchte doch eigentlich heimfahren …»

      «Das wäre aber schade, du! Bei dieser Hitze ist es doch hier am allerschönsten. Warte ruhig ab, zuletzt baden wir vielleicht alle. Ich will noch ein wenig fischen … Das könntest du übrigens auch einmal versuchen, es ist sehr amüsant. Anselm zeigt dir das gern, komm! He, Anselm!»

      Ilse senkte den Kopf und blickte dem Nahenden schuldbewusst von unten her in die treuen Augen. Xavers Vorschlag aber kam nun ihnen beiden gelegen, er gab ihnen das Mittel in die Hand, sich zwanglos wiederzufinden, ohne den zarten Kern des neuen peinlichen Vorfalls berühren zu müssen. Sie gingen eilig ans Werk. Anselm machte ein Haselrütchen zum Fischen bereit, Ilse nahm es lernbegierig in Empfang und ließ den Wurm an einer untiefen Stelle auf den Grund des Wassers gleiten. Sie hatte Glück, ein Barsch verschluckte den Wurm vor ihren Augen, sie zog und hob ihn verblüfft heraus, einen dunkel gestreiften kleinen Räuber, der die stachlige Rückenflosse stellte. Anselm nahm ihn ihr ab, erneuerte den Köder und zeigte ihr einen noch günstigeren Fangplatz, einen Uferstreifen, der mit Steinblöcken und Gestrüpp sich zwischen Hechtekap und Eglibucht hinzog. Dort begann Ilse wieder zu fischen.

      Dort aber lag, zwischen warmen Steinen halb verborgen, die Schlange, die alte Natter, die von den Jünglingen dank An­­selms Fürsprache und Sebastians Andeutungen geschont worden war, die geheimnisvolle Urbewohnerin, die ihnen das Unsagbare bedeutete. Ilse, die noch nie eine freilebende Schlange gesehen hatte, aber das Grauen davor mit allen Stadtkindern teilte, musste ihr hier wohl früher oder später begegnen. Die Haselrute in der Rechten, den schlanken Leib mühelos vorgebeugt, sodass ihr die Locken über die Schläfen hinaushingen, den Blick suchend auf dem Grund des Wassers, wo die Angel mit dem Wurme lag, stand sie eine Weile geduldig da, dann trat sie leise auf den nächsten Stein hin­über und versuchte es hier von neuem.

      Anselm, der sie nicht aus den Augen verlieren wollte, folgte ihr mit der Hechtrute in einigem Abstand, er sah sie wie eine hochgestielte Blume zierlich über das Wasser gebeugt und wartete auf einen Blick, ein Lächeln oder einen Anruf. Ilse aber war nun, angeregt durch den ersten Erfolg, so in ihr Tun versunken, dass sie ihren Beschützer zu vergessen schien,