1.5 Die Fähigkeiten des Menschen
Geprägt ist diese menschliche Existenz von der Fähigkeit der Selbsttranszendenz. Für Frankl bedeutet sie eine Transzendenz auf die menschliche Existenz hin, also die Fähigkeit des Geistes, aus sich heraustreten zu können, und zwar im Sinne einer Selbstdistanzierung. Um die Bedeutung dieses zentralen Begriffs in der Logotherapie zu erläutern, soll hier Frankl selbst zu Wort kommen: „Menschlichem Dasein geht es um viel mehr als um irgendwelche inneren Zustände; denn Menschsein weist allemal über sich selbst hinaus, auf etwas, dass nicht wieder es selbst ist, besser gesagt auf etwas oder auf jemanden, nämlich auf einen Sinn, dessen Erfüllung sich einem Menschen anbietet, oder auf einen anderen Menschen, den er liebt. In diesem Sinne lässt sich füglich sagen: ganz Mensch ist der Mensch nur im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person, und sich selbst verwirklicht er erst dann, wenn er sich selbst transzendiert. […] Fassen wir zusammen: Menschsein ist nicht zuständlich, sondern gegenständlich orientiert; es ist nicht an den inneren Zuständen interessiert, sondern an Gegenständen draußen in der Welt.“13
Das sinnzentrierte Menschenbild erkennt in jeder Situation eine Aufforderung an jede Person, in Freiheit und Verantwortlichkeit das Leben unter allen (auch widrigsten) Umständen zu gestalten. Gestalter kann der Mensch kraft seiner geistigen Dimension werden. Frankl bezeichnet diesen Prozess der Gestaltung als die kopernikanische Wende. Diese wandelt den frustrierten Menschen zu einem kreativen Jongleur, der seinen Blick auf die Wertemöglichkeiten richtet, die jeder Situation innewohnen und darauf warten, erfüllt zu werden.14
1.6 Die drei Säulen der Logotherapie
Logotherapie und Existenzanalyse werden von drei Säulen getragen, die Frankl folgendermaßen benennt:
(1) Die Freiheit des Willens: Als geistige Person ist der Mensch in erster Linie nicht nur ein reagierendes, sondern ein agierendes Wesen. Trotz seiner Bedingtheit ist er dazu fähig, Entscheidungen zu treffen, eigenverantwortlich zu handeln und dadurch seinen eigenen Lebensraum zu gestalten. Die Logotherapie hilft dem Menschen dabei, Freiräume im/in konkreten Leben(-ssituation) aufzuschließen, zwischen Symptom und Person zu differenzieren, und dadurch die Selbstbestimmungsfähigkeit im Menschen wieder zu finden.
(2) Der Wille zum Sinn ist ein Grundaxiom der Motivationstheorie der Logotherapie. Frankl meint, dass der Mensch nicht nur frei, sondern immer auf etwas hin frei ist. Ihn bewegt die Grundmotivation, sich in der Welt auszudrücken. Den Menschen bewegt die Suche nach einem Sinn im Leben. Kann der Wille zum Sinn – aus welchem Grund auch immer – nicht zur Geltung kommen, so muss sich der Mensch dem Gefühl der Sinn- oder Wertlosigkeit stellen. Die Andauer dieses Gefühls bedeutet dann existenzielle Frustration und kann zu diversen psychosomatischen oder neurologischen Störungen führen. Durch die Logotherapie wird der Mensch für die Wahrnehmung von Sinnmöglichkeiten sensibilisiert. Sie bietet dem konkreten Menschen nicht den Sinn an, sondern mit Hilfe der Logotherapie wird er dazu gebracht, Sinnmöglichkeiten in seinem Leben selbst zu entdecken.
(3) Sinn des Lebens: Im Sinne der Logotherapie bedeutet dies, dass das Leben nicht nur einen Sinn, sondern einen bedingungslosen Sinn hat. Dieser Sinn ist potenziell da, muss aber gesucht werden. Der Mensch ist dazu fähig, den Sinn in allen Lebenssituationen zu erkennen und zu verwirklichen. Und die Sinnmöglichkeit zeigt sich von Person zu Person unterschiedlich, aber auch im Falle derselben Person ist sie immer auch situationsbedingt. Daher arbeitet die Logotherapie nicht mit einem allgemeinen Lebenssinn, sondern sie hilft dem Menschen, seine Offenheit und Flexibilität für eine sinnvolle Gestaltung des Alltags zu bewahren und die Sinnmöglichkeiten ad situationem und ad personam immer wieder zu finden.15
1.7 Das psychiatrische Credo Frankls
An diese dargestellten konstitutiven Elemente des menschlichen Daseins – im Sinne der Logotherapie und Existenzanalyse – schließt sich das sogenannte psychiatrische Credo von Viktor E. Frankl an. Darin behauptet er, dass das Geistige im Menschen nicht erkranken kann, auch wenn es an schwersten leibseelischen Krankheiten leidet. Es kann gestört oder unsichtbar, aber niemals zerstört werden: „Die geistige Person ist störbar, aber nicht zerstörbar – durch eine psychophysische Erkrankung. Was eine Krankheit zerstören, was sie zerrütten kann, ist der psychophysische Organismus allein, das Endogene. Die Zerrüttung des Organismus bedeutet demnach nicht weniger, aber auch nicht mehr als eine Verschüttung des Zugangs zur Person – nicht mehr. Und das möge unser psychiatrisches Credo sein: dieser unbedingte Glaube an den personalen Geist – dieser ‚blinde‘ Glaube an die ‚unsichtbare‘, aber unzerstörbare geistige Person.“16 Allein diese geistige Person kann unter allen Umständen immer wieder „ein trotzdem Ja zum Leben sagen“17, denn sie ist von innen her motiviert, den Sinn des Lebens zu suchen, und ebenso ist sie dazu fähig, der Trotzmacht des Geistes auch in hoffnungslosen Situationen eine Chance zu geben, Sinnmöglichkeiten in der konkreten Lebenspraxis zu finden und sie zu erfüllen.
1.8 Franklsche Wertekategorien und die Sinnverwirklichung
Viktor E. Frankl nennt drei Wertekategorien, die es dem Menschen ermöglichen, Sinn zu verwirklichen. Diese sind: 1. Schöpferische Werte; 2. Erlebniswerte; 3. Einstellungswerte.
Sowohl das menschliche Schaffen als auch das Erleben verwirklichen sich – wie bereits darauf hingewiesen wurde –, indem der Mensch sich von sich selbst distanziert und sich einer Sache (beim Schaffen) oder einer Person (beim Lieben) hingibt. Die Entdeckung eines Sinns im Leiden setzt ebenfalls die Selbsttranszendenz des Menschen voraus und wird von Frankl als eine geistige Leistung des Menschen verstanden. Das Leiden an sich hat keinen Sinn, erst dann, wenn es im „Erleiden“ die Einstellungswerte im Menschen mobilisiert. Erst dort, wo unabänderliches Leiden, also „etwas Schicksalhaftes, als solches hingenommen werden muss. In der Weise, wie einer diese Dinge auf sich nimmt, ergibt sich eine unabsehbare Fülle von Wertmöglichkeiten“18. Frankl lehrt daher, dass das menschliche Leben sich nicht nur im Schaffen oder im Freuen, sondern auch noch im Leiden erfüllen kann. Ihm geht es „nicht um eine Art Glorifizierung des Leidens. Er hebt vielmehr nur darauf ab, dass jeder Mensch den Sinn seines Lebens in jeder Situation – die leidvollen Situationen inbegriffen – als konkret einmalig und einzigartig entdecken und erfüllen muss, wenn er seelisch gesund bleiben will, oder wenn er die seelische Heilung wieder finden will.“19
1.9 Seelenheil vs. Heilung der Seele bei Frankl
Ziel der Logotherapie als angewandte Psychotherapie ist die seelische Heilung. Diesbezüglich klärt Frankl den Unterschied zur Religion: Deren Ziel ist das Seelenheil. Allerdings schließt er nicht aus, dass bei einer religiös seelsorglichen Begleitung per effectum eine seelische Heilung erreicht werden kann. In diesem Sinne kann es umgekehrt auch durchaus möglich sein, dass eine logotherapeutische „Behandlung“ des Menschen per effectum zu seinem Seelenheil beitragen kann. Offenkundig ist, dass Frankl die Religiosität des Menschen nicht missachtet, aber auch nicht als eine notwendige Voraussetzung für die Sinnsuche betrachtet.20 So bedeutet der religiöse Glaube für die Logotherapie und Existenzanalyse „ein Glauben an den Übersinn – ein Vertrauen auf den Übersinn“21, mit dem – wenn vorhanden – therapeutisch gut gearbeitet werden kann. Glauben ist damit für Frankl eine existenzielle Entscheidung und kann als Ausdruck der allermenschlichsten Phänomene verstanden werden, der sich in der Sinnmotivation des Menschen Ausdruck verschaffen