Ein zweites System, das für die Gesundheit entscheidend ist, ist das der Genetik-Epigenetik-Verschaltung. Gene (beim Menschen etwa 25.000) sind die Grundlage für die Information im Körper, aber noch nicht die ganze Information. Gene müssen aktiviert und inaktiviert werden. Diese aktivierenden oder inaktivierenden Faktoren nennt man epigenetische Einflüsse. Wenn zum Beispiel ein Gen geschädigt ist, entsteht noch keine Krankheit. Diese entsteht erst dann, wenn das beschädigte Gen durch epigenetische Zusatzinformationen aktiviert wird. Für die hier diskutierte Frage von Gesundheit und Krankheit ist dieses Faktum deshalb so bedeutsam, da alle Menschen genetische Veränderungen haben (zum Teil todbringende). Wenn aber diese Gene nicht aktiviert werden, geschieht nichts. Daher sind alle Menschen wohl genetisch krank, aber doch meistens insgesamt gesund. Epigenetische Einflüsse geben oft den Ausschlag, sie können in der Umwelt liegen, in der Ernährung, in dem Maß an täglicher Bewegung, aber auch in den Lebensstilen, in zwischenmenschlichen Beziehungen oder im Inneren des Menschen mit seinem Denken und Fühlen. Im Gehirn wird das Denken und Fühlen repräsentiert, daher ist folgendes Zitat hier angebracht: „Das Gehirn hat […] direkten Einfluß darauf, welche Gene einer Zelle aktiviert und welche Funktionen von der Zelle infolgedessen ausgeführt werden“1. Das Gehirn denkt und fühlt zwar nicht (der Mensch denkt und fühlt), aber in ihm werden das Denken und die Emotionalitäten verschaltet und repräsentiert.
Aber nicht nur das Denken und Fühlen haben Einfluss auf die genetisch-epigenetischen Verschaltungen, sondern auch die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Lebensstile. So bringt es der Untertitel eines Buches von Joachim Bauer auf den Punkt. Er lautet: „Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern.“2 Dort heißt es unter anderem: „Daß zwischenmenschliche Beziehungen Einfluß auf die Aktivität von Genen und auf biologische Abläufe haben, hat sich auch für das Immunsystem als zutreffend erwiesen. Stress und Depression verändern die Genaktivität nicht nur bei zahlreichen Immunbotenstoffen (Zytokinen), sondern auch in Zellen des Immunsystems (T-Zellen und Natural-Killer Zellen), sodass deren Abwehrkraft gegenüber Erregern und gegenüber Tumorzellen entscheidend vermindert ist.“3 Die Medizin weiß seit langem, dass durch seelische Belastungen, dauerhafte Konflikte oder auch durch Depressionen das Immunsystem unterdrückt werden kann und so Krankheiten leichter entstehen. Heute erkennt man bereits die genetisch-epigenetischen Interaktionen „hinter“ dem Immunsystem. Auch hier vermerkt Joachim Bauer, dass „der seelische Stress der Depression mehrere Gene des Immunsystems ab[stellt], die für die Produktion von Immunbotenstoffen zuständig sind“4.
Das Wissenschaftsgebiet der Psychoneuroimmunologie befasst sich mit diesen Zusammenhängen. Dieses Wissenschaftsgebiet ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass man nicht nur die Auswirkungen des Innenlebens des Menschen auf das Immunsystem kennt, sondern auch die dahinterliegenden genetisch-epigenetischen Mechanismen. Daher könnte man heute auch von einer Psychoneurogenetik sprechen. Gerade bei Krebserkrankungen, die alle einen genetischen Hintergrund haben, sind diese epigenetischen Einflüsse von großer Bedeutung.5 Die epigenetischen Einflüsse im Inneren des Menschen betreffen nicht nur die psychologische, sondern auch die existenziell-spirituelle Dimension des Menschen. Wie später zu zeigen ist, hängen Phänomene wie innerer Friede, Freude, Stimmigkeit sowie auf der anderen Seite Unruhe, Zerrissenheit, Unfrieden, Angst auch mit dem Gottesverhältnis des Menschen zusammen. Diese inneren Befindlichkeiten wirken wiederum auf die genetisch-epigenetischen Verschaltungen ein.
Wenn man nicht genau definieren kann, was Gesundheit eigentlich ist, kann man sich dem Phänomen vom Mangel an Gesundheit, von Krankheiten und Krankheitsinterpretationen her nähern.
2 Gesundheit und Krankheitsinterpretationen
Der Versuch einer adäquaten Interpretation von Krankheitsphänomenen ist im Laufe der Geschichte immer wieder vorgenommen worden.6 Er entspricht dem Bedürfnis des Menschen nach einem tieferen Verständnis von Krankheiten. Geht man in der biblisch-abendländischen Geschichte zurück – nur diese wird hier betrachtet –, dann zeigt sich, dass auf Fragen nach einer adäquaten Interpretation von Krankheiten unterschiedliche Antworten gegeben wurden.7
In Frühkulturen (bis hin zum Neuen Testament) war man der Auffassung, dass böse Geister und Dämonen den Menschen überfallen, besetzen und erkranken lassen. Im Alten Testament ging man davon aus, dass Gott die Krankheiten schickt, er sie als Heilender aber auch wieder nehmen kann. Neben einer Schuld-Strafe-Äquivalenz wurde ihr Sinn auch in Erziehungs-, Prüfungs- oder Läuterungsabsichten Gottes gesehen. Krankheiten bekamen ausdrücklich religiöse Bedeutung.8
Im Neuen Testament wird Krankheit ebenfalls vor dem Hintergrund der Beziehung des Menschen zu Gott gesehen. Wenn gesagt wird, dass der Engel des Herrn Herodes Agrippa schlägt, der dann, von Würmern zerfressen, stirbt (Apg 12,23), dass diejenigen, die den Herrn auf die Probe stellen, durch Schlangenbisse umkommen (1 Kor 10,9), dass Paulus ein Stachel ins Fleisch getrieben wird – ein Bote Satans, der ihn mit Fäusten schlagen soll –, damit er sich nicht überhebt (2 Kor 12,7), dann zielt das Interesse der Darstellungen auf die existenziellen Erfahrungen, welche mit Krankheiten verbunden sind. Rein natürliche Krankheitsursachen werden nicht angeführt, es fehlt eine objektivierend-wissenschaftliche Betrachtung. Ferner spielt die Annahme einer Besessenheit durch Dämonen eine bedeutsame Rolle. Umgekehrt wird Heilung auf göttliches Handeln und den Glauben des Menschen zurückgeführt.
Nicht selten wird Krankheit als Folge der Sünde angesehen (Joh 5,14; 1 Kor 11,30 ff.), doch ist es dem Menschen verwehrt, eigenmächtig den Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit herzustellen (Joh 9,1–3). Krankheiten werden damit einer eindeutigen menschlichen Interpretation entzogen. Dem Betroffenen soll nicht zusätzlich die Last einer Schuld aufgebürdet werden. Hingegen dürfen sich die Gesunden nicht in der falschen Gewissheit wiegen, der Umkehr nicht zu bedürfen. Der Zusammenhang Sünde – Krankheit kann gegeben sein, eine eindeutige Aussage darüber ist aber dem Menschen verwehrt. Wichtiger als die Frage nach der Ursache ist die nach der finalen Bedeutung. Diese kann darin bestehen, dass die Herrlichkeit Gottes anhand von Heilungen offenbar wird (Joh 9,3), oder aber sie liegt – wie im Fall des Paulus – im „pädagogischen“ Bereich: Er soll sich wegen der an ihn ergangenen Offenbarungen nicht überheben (vgl. 2 Kor 12,7).
Im außerbiblischen Bereich will Hippokrates eine bestimmte, aus dem Gleichgewicht geratene Säftekonstellation (Humoralpathologie) für Krankheitsentstehungen verantwortlich machen,9 und der griechisch-römische Arzt Galen sucht auf der Basis seiner ersten Entdeckungen zum Blutkreislauf – Grundlage für die wissenschaftliche Medizin der Neuzeit10 – die Bewegungen des Blutes therapeutisch zu nutzen. Im Mittelalter werden Krankheiten wiederum in religiösem Kontext gesehen und zwar im „Dienst“ am religiösen Heil des Menschen.11 Als Ursachen kommen Besessenheit durch den Teufel oder Hexerei in Betracht und Krankheiten werden als Strafe Gottes angesehen.12
Der Mensch wird im Mittelalter – besonders bei Hildegard von Bingen – als in Einheit mit dem Kosmos stehend betrachtet. Da Krankheiten im Kontext des menschlichen Gottesverhältnisses gesehen werden, kann sich eine gestörte Harmonie zwischen Mensch und Gott in Krankheiten ausdrücken. Gesundheit ist daher nicht ohne innere Umkehr und Wiederherstellung dieser Harmonie zu erreichen. Die Bewegung von der Gesundheit zur Krankheit und von der Krankheit zur Gesundheit wird als Abbild des menschlichen Weges vom Paradies zum