Der Gegensatz von gesund ist krank und von Heil Unheil. Wenn wir hingegen den Ausdruck „wohlauf“ benutzen, meinen wir damit nicht nur eine körperlich, sondern auch eine seelisch gute Verfassung, eine Art ganzheitliches Heil. Aus Erfahrung wissen wir, dass Leib und Seele über eine Eigendynamik verfügen. Körperliche oder leibliche Gesundheit ist stets gefährdet, Krankheiten können sich trotz oder gerade auch im gesunden Leben einstellen, ihre Ursachen bleiben oft ungeklärt. Ärztliche, physiologische oder pharmakologische Behandlungen können uns beim Prozess der Genesung helfen. Ähnliche Erfahrungen machen wir bei seelischen Erkrankungen. In diesen Fällen haben wir aber oft mit innerpsychischen Interaktionen zu tun, und die therapeutischen Eingriffsmöglichkeiten stehen uns nur begrenzt zur Verfügung. Es ist klar, sowohl Seele als auch Körper können krank werden und der Weg der Heilwerdung ist oft lang und ein sehr unangenehmer Prozess der Re-Stabilisierung physischer oder psychischer Vorgänge.
Gibt es denn nichts Intaktes in unserem menschlichen Wesen, das nicht krank werden kann? Warum glauben manche Menschen kaum an Heilung und andere wiederum tun alles nur Mögliche, auch in den aussichtslosesten Situationen, um wieder gesund zu werden – das womöglich mit einer Lebenseinstellung, die Bewunderung hervorruft? Viktor E. Frankl behauptet, dass der Mensch nicht nur über eine seelische und körperliche Dimension seines Mensch-Seins verfügt, sondern auch über eine geistige Dimension, die eben nicht erkrankt, jedoch durch psychische und physische Krankheiten eingeschränkt werden kann: „[…] in Wirklichkeit ist der Mensch zwar eine leiblich-seelische Einheit, aber diese Einheit macht noch nicht den Menschen, macht nicht dessen Ganzheit aus, sondern zu ihr, zur wahren Ganzheit, gehört eben das Geistige wesentlich mit dazu.“1 Die geistige Dimension des Menschen macht es möglich, dass er, anders als Tiere, Triebe nicht abreagiert, auf Reize nicht nur reagiert, sondern in die Welt auch hineinagiert. Die geistige (noetische) Dimension des Menschen ist ein spezifisch menschliches Phänomen; sie zeigt sich in der Sinnstrebigkeit und in seiner Verantwortlichkeit sowie in seiner Fähigkeit, zu den Gegebenheiten Stellung zu nehmen. Aus dieser Überzeugung heraus gründete Frankl die erste sogenannte sinnorientierte Psychotherapie, die Logotherapie und Existenzanalyse als ihre philosophische und anthropologische Fundierung. In seinem sinnorientierten Konzept hat der Sinn im Leben des Menschen Heilungskraft und trägt dazu bei, dass auch der leidende Mensch ein qualitativ gutes Leben führen kann, trotz widrigster Umstände. Dieser Beitrag lädt in einem ersten Schritt dazu ein, die Logotherapie und die Existenzanalyse als sinnzentrierte Therapie kennenzulernen und dabei die Heilkraft des Sinnes zu entdecken. In einem zweiten Schritt werden mit fünf Thesen zur Person nach Frankl einige Anhaltspunkte für die kirchliche Praxis aufgegriffen und damit Anwendungsmöglichkeiten für dieselbe zum Wohl des Menschen vorgeschlagen.
1 Logotherapie und Existenzanalyse – eine kurze systematische Darstellung
Logotherapie und Existenzanalyse ist eine international anerkannte sinnzentrierte Psychotherapie, benannt auch als die Dritte Wiener Richtung der Psychotherapie. Nach der Psychoanalyse von Sigmund Freud und nach der Individualpsychologie nach Alfred Adler entwickelte der Wiener Arzt und Philosoph Viktor E. Frankl (1905–1997) die Logotherapie und Existenzanalyse.
1.1 Die Anfänge
Als der junge Arzt Viktor E. Frankl von 1933 bis 1937 im psychiatrischen Krankenhaus Steinhof in Wien den „Selbstmörderinnenpavillon“ leitete, wo er bis zu 3000 selbstmordgefährdete Frauen zu betreuen hatte, drehte er die damals selbstverständliche Gretchenfrage der Psychiatrie, warum denn diese Menschen krank würden, um, und fragte danach, was denn Menschen gesund hielte? Weshalb würden nicht alle Traumatisierten krank? In einer Studie mit 1000 gesunden Probanden befragte Frankl Frauen nach ihrem Grund, warum sie trotz miserabler Situationen nicht Suizid begangen hätten? Die Ergebnisse bestätigten, dass eine vom Menschen selbst erkannte Sinnperspektive ihn gesund hielte und vor psychischen Krankheiten schützte.2
1.2 Biographische Verifizierung der Logotherapie
Während des II. Weltkrieges erlebte Frankl in vier Konzentrationslagern hautnah die inhumansten Bedingungen mit und machte die Erfahrung, wie das Wissen um einen Sinn im Leben Kraft zum Überleben gibt:
„Und dann sprach ich schließlich noch von der Vielfalt der Möglichkeiten, das Leben mit Sinn zu erfüllen. Ich erzählte meinen Kameraden […] davon, dass menschliches Leben immer und unter allen Umständen Sinn habe, und dass dieser unendliche Sinn des Daseins auch noch Leid und Sterben, Not und Tod in sich mit einbegriffe. Und ich bat diese armen Teufel, die mir hier in der stockfinsteren Baracke aufmerksam zuhörten, den Dingen und dem Ernst unserer Lage ins Gesicht zu sehen und trotzdem nicht zu verzagen, sondern im Bewusstsein, dass auch die Aussichtslosigkeit unseres Kampfes seinem Sinn und seiner Würde nichts anhaben könne, den Mut zu bewahren. Auf jeden von uns, sagte ich ihnen, sehe in diesen schweren Stunden und erst recht in der für viele von uns nahenden letzten Stunde irgend jemand mit forderndem Blick herab, ein Freund oder eine Frau, ein Lebender oder ein Toter – oder ein Gott. Und er erwarte von uns, dass wir ihn nicht enttäuschen und dass wir nicht armselig, sondern stolz zu leiden und zu sterben verstehen!“3
Frankl bestätigte inmitten tragischster Zustände die Thesen der Logotherapie und Existenzanalyse, die er noch vor seiner Deportation aufstellte, und entwickelte seine Theorie bis zum Tod des Menschen weiter.
1.3 Motivationstheorie der Logotherapie
Die Unterschiede der drei Wiener Richtungen der Psychotherapie liegen nach Viktor Frankl primär in ihrer Motivationstheorie sowie in ihrem Menschenbild. Was die Motivationstheorie anbelangt, definiert Sigmund Freud die Grundmotivation des Menschen als Wille zur Lust und Viktor Adler als Wille zur Macht. Nach Viktor Frankl ist jedoch der Wille zum Sinn die Urmotivation des Menschen.4 Freud sieht im Menschen ein sich abreagierendes Wesen, das sich der Wirklichkeit anpassen muss, um gesund zu bleiben. Adler definiert den Menschen als ein reagierendes oder kompensierendes Wesen, das sich gestalten will, um sich zu behaupten. Bei Frankl ist der Mensch ein agierendes Wesen, das in der Wirklichkeit Wertmöglichkeiten erkennt und erfüllt, um Sinn zu finden. Er definiert den locus of power des Menschen in seiner Sinnorientierung: „Es wird nicht einfach eine Figur wahrgenommen, die uns vor einem Hintergrund in die Augen springt, sondern bei der Sinn-Wahrnehmung handelt es sich um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit. Und diese Möglichkeit ist jeweils einmalig. Sie ist vergänglich. Aber auch nur sie ist vergänglich. Ist eine Sinnmöglichkeit einmal verwirklicht, ist der Sinn einmal erfüllt, so ist er es nämlich ein für allemal.“5
1.4 Das Menschenbild der Logotherapie
Die Logotherapie und Existenzanalyse arbeitet aufgrund eines dreidimensionalen Menschenbildes, das im Konzept der Dimensionalontologie vorgelegt wird. Neben eine somatische und psychische Dimension tritt hier die Dimension des Geistigen im Menschen, die das eigentlich Menschliche ausmacht.6 Menschliche Existenz bedeutet daher auch immer, aus sich selbst heraus- und sich selbst gegenübertreten zu können, „wobei der Mensch aus der Ebene des Leiblich-Seelischen heraustritt und durch den Raum des Geistigen hindurch zu sich selbst kommt“7. Frankl sieht den Schlüssel der Bewahrung und der Rettung der anthropologischen Einheit und Ganzheit des Menschen in der Dimensionalontologie. Darin löst sich nämlich der Widerspruch dieser verschiedenen und doch einheitlichen Wirklichkeiten der menschlichen Existenz auf.8 Bei dieser anthropologischen Einheit handelt es sich um eine ontologische Differenz, wobei die Person, die „eine Macht, eine Wirkkraft, ein Vermögen in sich trägt, wodurch sie ein immerfort Handelndes ist“, und die „nicht