Mit Beginn der Neuzeit, dem Entstehen eines neuen Weltbildes und dem Aufkommen der experimentellen Naturwissenschaft ändert sich das Bild vom Menschen. Er fällt, religiös gesehen, aus der Einheit mit dem Kosmos heraus. Auf der Basis fortschreitender naturwissenschaftlicher Erkenntnis – vornehmlich als Folge des mechanistischen Weltbildes Isaac Newtons – wird auch in der Medizin das zunächst von René Descartes vorgestellte und von Julien-Offray de Lamettrie weitergeführte Maschinenmodell vom Menschen im 18. Jahrhundert zum Paradigma von Krankheit und Gesundheit. Strukturelle Veränderungen im menschlichen Körper, die man an Leichen feststellen konnte, werden rückwirkend auf lebende Menschen extrapoliert und für Krankheitsentstehungen verantwortlich gemacht (Strukturpathologie).14 Materielle Deformationen gelten als Krankheitsursachen.
Als Gegenbewegung zu dieser statischen Sicht vom Menschen tritt bereits im 17. Jahrhundert eine vitalistische Strömung auf, die dem Menschen ein inneres Lebensprinzip, eine Art „Seele“ zubilligt.15 Jedoch stehen das 18. und 19. Jahrhundert weiterhin unter dem Eindruck einer mechanistischen Vorstellung vom Menschen. Die Entdeckung von Bakterien und anderen Mikroorganismen ermöglicht neue Interpretationen von Krankheiten.16 Schließlich werden im 20. Jahrhundert funktionelle Gründe (Funktionspathologie) für die Entstehung von Erkrankungen verantwortlich gemacht. Man geht davon aus, dass die Funktionen von Organen oder von bestimmten Regulationsmechanismen gestört sind und dadurch Krankheiten entstehen. Als Ursache solcher Funktionsstörungen werden unterschiedliche Parameter genannt: virale und bakterielle Infektionen, genetische Dispositionen, Schädigungen durch radioaktive Strahlen und schließlich auch seelische Ursachen.
Es war Sigmund Freud, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts derartige seelische Faktoren als Ursache für bestimmte Erkrankungen verantwortlich machte. Innerseelische und zwischenmenschliche Konflikte, die zu Verdrängungen in dem von Freud postulierten Unbewussten führen, drücken sich seiner These nach in Krankheitsphänomenen aus. Mit dieser Annahme wurden – wissenschaftlich gesehen – erstmals seit Beginn der Neuzeit immaterielle Gründe für Krankheitsentstehungen angeführt. Während Freud sich vornehmlich mit neurotischen Erkrankungen befasste, begann sich die aus seinen Erkenntnissen hervorgehende psychosomatische Medizin auch mit organischen Erkrankungen zu beschäftigen. Sie maß den von Freud angesprochenen Konflikten auch Bedeutung für die Entstehung von körperlich-organischen Erkrankungen zu.
Die psychosomatische Medizin, die bis heute über keine einheitlichen Konzepte verfügt, macht seelische Konflikte zusammen mit biologischen und soziologischen Komponenten für Krankheitsentstehungen verantwortlich. Es werden bio-psycho-soziale Konzepte favorisiert. Mit dieser Konzeption bemüht sich die psychosomatische Medizin, die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des „Menschen als Maschine“ zu übersteigen und diesen in seiner leib-seelischen Einheit im Kontext seiner Umgebung ernst zu nehmen. Sie strebt damit nach einer ganzheitlichen Sicht des Menschen. Ob diese Ganzheitlichkeit erreicht wird, ist im Laufe der folgenden Ausführungen zu klären.
3 Zum Begriff der Seele und der leib-seelischen Einheit des Menschen
Der Begriff der Seele hat sich im Laufe der Geschichte sehr gewandelt. Plato ging von einer unsterblichen Seele aus, die bereits vor diesem irdischen Leben existiert, sich in einen Körper inkarniert und diesen im Tod wieder verlässt. Hier bleibt ein Dualismus von Seele und Leib. Aristoteles nahm die Gegenposition ein und vertrat eine innerweltliche Seelenlehre. Die Seele ist inneres Lebens- und Ganzheitsprinzip alles Lebendigen. Alles Lebendige ist durchseelt. Insofern ist auch die Pflanze durchseelt, das Tier, der Mensch. Thomas von Aquin, der im Mittelalter die aristotelische Seelenlehre übernimmt, spricht daher von der anima vegetativa für die Pflanzenseele (die Medizin kennt noch das Vegetativum im Menschen), von der anima sensitiva, der Tierseele, und der anima intellectiva als der menschlichen Seele. Alle drei „Seelenebenen“ sind im Menschen vereint und durchseelen den Körper von innen her zum Leib. Der Körper ist das materiell Veränderbare, hier werden dauernd Zellen abgebaut, umgebaut, neu gebaut oder abgestoßen. Der Leib steht für die Identität und Einmaligkeit des Menschen. Daher spricht das Christentum auch von der leiblichen Auferstehung von den Toten und nicht von der körperlichen.
So schafft Thomas eine Synthese aus griechisch-aristotelischer Philosophie und christlichem Denken.17 Er fasst seine Gedanken zu dem zentralen Satz zusammen: anima forma corporis: die Seele formt den Körper (zum Leib). Dies ist ein Denken von innen nach außen. Die moderne Genetik verwendet den Begriff der In-forma-tion. Hier steckt auch der Begriff forma drinnen. Diese Betrachtungsweise schaut von außen, von der messbaren Seite auf die Dinge. Sie bleibt zweidimensional und erfasst den Menschen nicht in seiner Ganzheit. Obwohl schon die Erkenntnis der Psychosomatik, der Psychoneuroimmunologie und jener von Genetik und Epigenetik der Ganzheit des Menschen näherkommt, ist sie längst nicht erreicht. Es braucht den ergänzenden Blick von innen her auf das Leib-Seele-Problem. Einen Schritt weiter geht die Erkenntnis der sogenannten individualisierten oder personalisierten Medizin, die besagt, dass nicht nur jeder Mensch ein einzigartiges Genom hat (Genetik-Epigenetik), das ihn z. B. unterschiedlich auf Medikamente oder Impfstoffe reagieren lässt, sondern dass auch jeder Mensch in einer je unterschiedlichen Umgebung lebt und ein ganz individuelles Innenleben führt, das mit keinem anderen vergleichbar ist. Dies ist ein weiterer Schritt auf den Einzelnen zu und nimmt Bezug auf eine ganz individuelle Erkrankung.
Mit René Descartes zerbricht denkerisch diese Leib-Seele-Einheit und der Seelenbegriff verschwindet nahezu. Descartes spricht nur noch von Geist und Materie. Die innere Einheit des Menschen wird dadurch zerrissen. Aber dieses Denken bringt als Positivum einen zentralen Unterschied auf den Punkt, dass der Geist etwas anderes ist als die Materie. Ein materielles Gehirn hat ein Gewicht und eine Ausdehnung, ein Gedanke nicht. Ein Gehirn kann man nicht durch eine Mauer durchdrücken, ein Gedanke ist in einer Sekunde in Australien und überwindet jede Mauer. Hier könnte man zusammenfassen: Der eine Mensch existiert in der Unterschiedenheit von Materie und Geist, ist Einheit in Verschiedenheit.
Erst Sigmund Freud bringt den Seelenbegriff neu zur Sprache, jetzt aber nicht mehr als ein inneres Lebens- und Ganzheitsprinzip, sondern als das Unbewusste, das Es, das Ich, das Überich, das Bestehen ungelöster Konflikte. Über Carl Gustav Jung und Alfred Adler entwickelt sich die Psychologie hin zur Psychosomatischen Medizin mit den Unterabteilungen Psychoonkologie und Psychoneuroimmunologie. Wie gesagt, bleiben diese Konzepte zweidimensional, sie müssten grundgelegt werden in der anima forma corporis-Lehre des Thomas von Aquin mit dem Konzept des menschlichen Geistes als Geistseele (anima intellectiva), die auf das Absolute hin ausgerichtet ist und erst von dort her verstanden werden kann.
Erst aus dieser komplexen Sicht des Menschen kann eine ganzheitliche Perspektive von Krankheit und Gesundheit entwickelt werden. Denn rein innerweltlich ist gar nichts ganzheitlich, weil die Welt endlich ist. Eine den Menschen in seiner Ganzheit erfassende Sicht muss die naturwissenschaftlichen Ergebnisse ernst nehmen, kann die möglichen psychischen Hintergründe einer Krankheit im Sinne der Psychologie hinterfragen und sie schließlich in das Gesamtkonzept des Menschen in seiner Geiststruktur integrieren.
4 Zusammenschau von Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie
Was bedeutet das bisher Angedeutete für Fragen nach Gesundheit und für konkrete Krankheitsgeschehnisse? Man kann von hier aus Krankheiten dreidimensional interpretieren. Der erste Zugang ist naturwissenschaftlicher Art. Nehmen wir noch einmal Krebserkrankungen, die alle einen genetischen Hintergrund haben. Nur wenige sind vererbt (z. B. Brustkrebs bei Frauen und bestimmte Formen von Darmkrebs), die anderen im Laufe des Lebens erworben. Diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind universalisierbar und gelten weltweit.
Diese verallgemeinerbaren Zugänge können ergänzt werden durch die zweite Ebene der individuellen Komponenten. Wie gesagt, Gene müssen durch epigenetische Einflüsse aktiviert oder inaktiviert werden. Diese Einflüsse können mannigfaltig sein: Ernährung, Rauchen, mangelnde Bewegung, aber auch innerer Stress (Disstress), Zerrissenheiten, dauerhafte Konflikte. Hier kommt zunächst die Psychologie ins Spiel. Diese psychologische Ebene ist interindividuell vergleichbar. Wenn z. B. von hundert Frauen achtzig in einer vergleichbar schwierigen Lebenssituation