Bei dieser geistig-spirituellen Dimension geht es aus christlicher Sicht um das Verhältnis zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Geist. Diese verschiedenen „Geister“ kann man unterscheiden lernen. Schon im Neuen Testament, später beim Heiligen Benedikt und besonders bei Ignatius von Loyola wird hier von der Unterscheidung der Geister gesprochen. Dabei geht es um die Analyse dessen, was sich im Menschen ereignet und welche verschiedenen Antriebe, Seelenregungen und Seelenbewegungen im Menschen auftauchen. In seinem Buch über die geistlichen Übungen (Exerzitienbuch, EB)18 heißt es bei Ignatius: „Regeln, um einigermaßen die verschiedenen Bewegungen zu erklären und zu erspüren, die in der Seele sich verursachen; die Guten, um sie aufzunehmen, die Schlechten, um sie zu verwerfen“ (EB 21). Bewegen heißt im Lateinischen movere und davon sind die Begriffe „Motiv“ und „Emotionalität“ abgeleitet. So kommt man dem etwas fremden Begriff der Unterscheidung der Geister näher, wenn man sagt, dass es verschiedene Motive und Emotionalitäten im Menschen gibt, die man unterscheiden kann. Man kann hier zum Beispiel Gefühle, die sich mehr auf Situationen und Menschen beziehen, vom Gespür unterscheiden, das sich auf das ganze Leben bezieht. Es geht darum, besser zu verstehen, aus welchen Motiven heraus der Mensch handelt und was ihn dabei emotional bewegt. Es geht letztlich darum, im eigenen Inneren Ordnung zu machen, um so gute Voraussetzungen für eine körperliche und leibliche Gesundheit zu ermöglichen.
Der Mensch kann in seinem Innenleben und damit auch leiblich erfahren, in welche Richtung er unterwegs ist. Er wird innerlich bewegt und bewegt sich äußerlich in eine bestimmte Richtung. Im Zentrum christlicher Spiritualität steht der Satz des Vater Unser: „Dein Wille geschehe.“ Das klingt nach Fremdbestimmung. Den Willen eines anderen Menschen zu tun, ist Fremdbestimmung. Bei Gott ist es umgekehrt: Den Willen Gottes zu erfüllen, führt zum innersten Kern des Menschen. Der Mensch, der diesen Willen sucht und erfüllt, kann schrittweise von falschen innerweltlichen Abhängigkeiten frei werden hin zum Finden der eigenen Berufung, Identität, inneren Stimmigkeit, Einmaligkeit.
Um diesen Weg in die Freiheit zu finden, hat Ignatius von Loyola in seinen Exerzitien eine besondere Methode entwickelt. In den großen Exerzitien, die auf vier Wochen im Schweigen angelegt sind, geht es in der ersten Woche um die Betrachtung des eigenen Lebens mit seinen Prägungen. Mit allen Sinnen soll der Mensch sich in seine Kindheit und Jugend versetzen und nachspüren, wie die Umgebung auf ihn gewirkt hat und welche Prägungen dadurch entstanden sind. In der zweiten Woche wird – ebenfalls mit allen Sinnen – versucht, das Leben Jesu von innen her zu erfassen. In der dritten Woche geht es um die Betrachtung des Leidens Jesu und in der vierten Woche um die Überwindung des Leidens hinein in das, was die Tradition Erlösung und Auferstehung nennt.19
Der Mensch, der in diesem dynamischen Prozess fortschreitet, findet je neu seinen inneren Frieden und tiefe Freude. Ignatius nennt diesen inneren Seelenzustand „Trost“: „Ich rede von Trost, wenn in der Seele eine innere Bewegung [Hervorhebung M. B.] sich verursacht, bei welcher die Seele in Liebe zu ihrem Schöpfer und Herrn zu entbrennen beginnt […] und endlich nenne ich Trost jede Zunahme von Hoffnung, Glaube, Liebe, und jede innere Freudigkeit, die ihn zu den himmlischen Dingen ruft und zieht und zum eigenen Heil seiner Seele, indem sie ihn besänftigt und befriedet in seinem Schöpfer und Herrn“ (EB 316). Das Herausfallen aus dieser inneren Einheit nennt er „Trostlosigkeit“: „Ich nenne Trostlosigkeit alles, was zur dritten Regel in Gegensatz steht, als da ist: Verfinsterung der Seele, Verwirrung in ihr, Hinneigung zu den niedrigen und erdhaften Dingen, Unruhe verschiedener Getriebenheiten und Anfechtungen, die zum Mangel an Glauben, an Hoffnung, an Liebe bewegen, wobei sich die Seele ganz träg, lau, traurig findet und wie getrennt von ihrem Schöpfer und Herrn“ (EB 317).
Es geht um innere Seelenregungen und verschiedene Antriebe im Menschen: solche, die aus dem Ich des Menschen kommen, solche, die aus dem göttlichen Geist stammen und jene aus dem „unguten“ Geist, die den Menschen vom Weg abbringen wollen. Nach den Worten des Theologen Karl Rahner ist festzuhalten, „daß man daraus, woher der Antrieb stammt, allererst erkennt, ob er gut ist“20. Rahner meint, dass die Güte einer Tat erst „aus der Erkenntnis der Herkunft“21 des Antriebes – ob göttlicher Antrieb oder nicht – zu erkennen ist und nicht einfach nur durch die Anwendung allgemeiner Normen. Zwar geht es auch darum, bestimmte Normen zu akzeptieren (z. B. 10 Gebote), aber menschliches Handeln weist nach christlicher Auffassung darüber hinaus.
Allerdings wird man für den modernen Menschen zugeben müssen, „daß der Mensch von heute mit seinem spontanen Lebensgefühl nur sehr schwer bereit sein wird, etwas, was er in seinem Bewußtsein entdeckt, als eine höchst persönliche Einwirkung Gottes anzuerkennen, seine Stimmungen, Antriebe, seinen ‚Trost‘ und ‚Mißtrost‘ als eine Wirkung transzendenter Mächte zu begreifen. Er wird eher an Hormone, Wirkungen des Wetters, erbbiologische Charakterbedingtheiten, Echo aus dem Unterbewußtsein, Komplexe und an tausend andere Dinge denken, bevor er auf den Gedanken kommt, daß da Gott, sein Engel oder der Teufel am Werk ist.“22 Der Mensch wird noch zugeben, dass die Erfahrungen der seelischen Innenwelt religiös bedeutsam sind und etwas mit Gott zu tun haben. „Aber daß sie unmittelbar von Gott bewirkt sein könnten, wird ihm heute nicht leicht einleuchten.“23
Nimmt man diese Aussagen von Frieden und innerer Freude auf der einen Seite und von Zerrissenheit, Getriebensein, Unruhe auf der anderen Seite mit den Aussagen der Psychoneuroimmunologie über innere Zerrissenheiten, Konflikte, Disstress zusammen, kann man durchaus schließen, dass auch diese existenziell-spirituelle Dimension des Menschen Auswirkungen auf Genetik, Epigenetik und das Immunsystem haben und somit auf Krankheit und Gesundheit. Bei einer solchen Interpretation geht es nicht um Schuld, sondern um Erkenntnis, Reflexion, Bedeutung oder Sinn einer Erkrankung.
Allerdings gibt es hier keine hundertprozentige Relation. Es kann jemand „richtig“ leben und die geschilderten Zusammenhänge erkennen und doch erkranken. Das hängt mit Umwelteinflüssen zusammen oder mit der möglichen Ausgesetztheit einer krankmachenden Umgebung (z. B. schlechte Hygienemaßnahmen in ärmeren Ländern). Es kann auch sein, dass jemand krank bleibt und doch den Sinn einer solchen Erkrankung entdeckt. So ist es Paulus ergangen. Er bittet Gott mehrfach, ihm seine Krankheit zu nehmen (womöglich eine Epilepsie), aber dieser Wunsch wird abgelehnt und stattdessen gesagt: Meine Gnade soll dir genug sein. Und dann erkennt Paulus den Sinn dieser Erkrankung, dass ihm ein Stachel ins Fleisch getrieben ist, damit er sich nicht überhebt.
5 Zusammenfassung
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Gesundheit und Krankheit sind je neu herzustellende Gleichgewichtssysteme. Sie sind einerseits ein naturwissenschaftliches Geschehen und haben zum anderen mit dem Innenleben und Entscheidungen des Menschen zu tun. Im Inneren des Menschen finden Interaktionen zwischen psychischen und existenziell-spirituellen Seelenbewegungen statt. Aus christlich-spiritueller Sicht führt die Kongruenz mit dem göttlichen Wollen je neu zu innerer Stimmigkeit, Frieden, Freude. Wie sich auf der naturwissenschaftlichen Ebene immer neu ein Gleichgewicht einstellen muss, kann auch auf der geistigen Ebene durch gute Entscheidungen je neu ein inneres Gleichgewicht hergestellt werden. Die anima forma corporis-Lehre des Thomas von Aquin kann zusammengedacht werden mit den Vorstellungen der In-forma-tion des Organismus durch Genetik und Epigenetik. Die Perspektive von innen nach außen kann sich mit jener von außen nach innen komplementär ergänzen. Der alte Satz mens sana in corpore sano – ein gesunder Geist in einem gesunden Körper – kann erweitert werden mit: ein gesunder geordneter Geist ist eine gute Voraussetzung (keine Garantie) für einen gesunden Körper und Leib.
Der Autor: Prof. Dr. med. Dr. theol. Mag. pharm. Matthias Beck, abgeschlossene Studien in Pharmazie, Medizin, Philosophie und Theologie; Promotion in Medizin