»Macht, dass ihr hinter mich kommt!« Humboldt zog sein verborgenes Rapier aus dem Spazierstock. Mit einem mächtigen Hieb drang er auf den Gegner ein. Die Klinge sauste nieder und hieb die gläserne Schlange in zwei Teile. Mit einem Geräusch, als würde man Wasser auf eine glühende Herdplatte spritzen, fiel das zappelnde Ding zu Boden. Ein unerträglicher Gestank breitete sich aus.
Ein wenig krümmte und zuckte das Ding am Boden herum, dann löste es sich in einer Rauchwolke auf. Nur eine Handvoll Sand blieb übrig.
Bellheim taumelte zurück. Die Hände lockerten ihren Griff, und der Junge plumpste hustend und keuchend zu Boden. Eine Weile rang er nach Atem, dann kroch er aus der Gefahrenzone. Bellheim stand wie angewurzelt auf dem Fleck, dann ging er auf Humboldt los. Sein Gesicht war zu einer furchterregenden Maske verzerrt. Der Mund stand offen, seine Hände waren vorgereckt.
»Lass den Unsinn, Richard«, sagte Humboldt. »Es ist vorbei. Ich habe den Parasiten getötet.«
Doch der Völkerkundler hörte ihn nicht. In seinen Augen leuchtete ein irrsinniges Feuer, während er unbarmherzig auf den Forscher eindrang.
»Bleib stehen. Keinen Schritt weiter.« Humboldt hielt sein Rapier ausgestreckt auf Bellheim gerichtet. Die Spitze berührte dessen Brust. »Richard, bitte.«
Mit Entsetzen sah Charlotte, dass Bellheims Haut sich zu verändern begann. Erst wurde sie blass, dann weiß, schließlich durchscheinend. Nur wenige Sekunden waren verstrichen und der ganze Mann sah aus, als bestünde er aus Glas.
Ein schreckliches Lachen drang aus seiner Kehle. Ein Lachen, das eindeutig nicht menschlich war.
Dann trat er einen Schritt nach vorn.
Die Spitze des Rapiers drang in seine Brust.
Charlotte wollte den Blick abwenden, doch sie konnte nicht. Ihr Entsetzen war so groß, dass sie einfach hinsehen musste. Die Klinge kam mit einem quietschenden Geräusch aus dem Rücken des Mannes wieder heraus.
Und noch immer lachte er.
»Wer bist du?«, stammelte Humboldt. »Was bist du?«
»Ich werde euch anpassen«, stieß das Wesen glucksend hervor, während es sich zentimeterweise durch die stählerne Klinge vorwärtsarbeitete. »Es wird euch gefallen. Schon bald werden wir alle zusammen singen. Versteht ihr? SIIIN…GEN!« Seine Stimme steigerte sich zu einem hellen, gläsernen Kreischen.
Humboldt stieß einen Fluch aus. In einer Mischung aus Wut und Verzweiflung stemmte er sich nach vorn und drängte den Gegner in Richtung der Fenster. Bellheim, immer noch kichernd und glucksend, hob seine Hände zum Angriff. Charlotte konnte sehen, dass an den Fingerspitzen neue Fühler entstanden, die auf Nase und Ohren des Forschers zu zielen schienen. Humboldt reagierte nicht darauf. Stattdessen schob er mit unverminderter Härte weiter. Mittlerweile waren sie auf der anderen Seite des Raums angekommen. Es gab ein Bersten und Klirren, dann zersprang die Scheibe. Der Forscher legte seine ganze Kraft in den Stoß. Einen wütenden Schrei ausstoßend, drängte er seinen Gegner nach draußen. Doch noch war es nicht vorbei. Bellheim hielt ihn so fest umklammert, dass er mitgerissen wurde. Ineinandergeklammert und verzweifelt miteinander ringend, stürzten die beiden Kontrahenten in den verschneiten Garten. Es gab einen schweren Schlag, dann eilten alle ans Fenster.
Charlotte beugte sich vor und blickte nach unten. Humboldt und Bellheim lagen im Schnee. Der Forscher war angeschlagen. Seine Bewegungen waren müde und langsam. Bellheim hingegen zappelte und kreischte, als stünde er unter Strom. »Kalt!«, schrie er und versuchte aufzustehen, doch Humboldt hielt ihn zurück. Einige der Gäste, die gerade zurück ins Haus drängten, schrien erschrocken auf, als Humboldt und Bellheim zwischen sie stürzten. Erst jetzt bemerkten sie, dass dort ein tödlicher Kampf im Gang war und dass dieser immer noch andauerte.
Atemlos verfolgten die Gäste das zähe Ringen der beiden Gegner. Gertrud Bellheim war die Einzige, die in dem Durcheinander die Nerven behielt. Entschlossen stürmte sie herbei und drang auf die Kontrahenten ein. »Humboldt, Richard, auseinander! Sofort! Was ist nur in euch gefahren? Auseinander mit euch!«
Als Worte nichts halfen, schrie sie: »Ungeheuerlich! Und das am Silvesterabend! Bertram, trennen Sie die Streithähne, aber schnell!«
Der Diener beeilte sich, dem Befehl seiner Herrin nachzukommen, als plötzlich und unerwartet die Kirchenglocken zu läuten anfingen.
In Deutschland war erst seit Kurzem eine einheitliche Zeitrechnung eingeführt worden, daher hatten an diesem Silvesterabend zum ersten Mal alle Kirchenglocken gleichzeitig um Punkt 24 Uhr geläutet. Nur die Schwestern vom Heiligen Blute Jesu in ihrer nahe gelegenen Klosterkirche hatten zunächst im Gebet verharrt und ließen ihre Kirchenglocke erst jetzt das neue Jahr begrüßen. Das Läuten klang, als würde es direkt aus der Nachbarschaft kommen. Laut und dröhnend hallte es zwischen den Hauswänden wider. Die Reaktion war überraschend. Wie von einer ungeheuren Kraft bewegt, flog Humboldt mehrere Meter durch die Luft und landete in einer Schneewehe. Atemlos und am Ende seiner Kräfte blieb er liegen. Bellheim hingegen gebärdete sich, als wäre der Teufel in ihn gefahren. Er presste die Hände auf die Ohren und zappelte und schrie, dass die Anwesenden vorsichtshalber einige Meter zurückwichen. Und dann veränderte er sich. Er schrumpfte, wurde kleiner und löste sich schließlich auf. Immer kleiner wurde er, bis schließlich nichts mehr von ihm übrig war.
Ungläubiges Schweigen breitete sich aus. Niemand hatte eine Erklärung für das, was soeben geschehen war. Humboldt stand auf, klopfte den Schnee von seinem Mantel und trat zu den anderen. Die Anwesenden bildeten einen Kreis um die Kampfzone. Alle schienen zu warteten, dass Bellheim wieder auftauchen möge. Doch nichts geschah. Von dem Völkerkundler fehlte jede Spur. Weder das verzweifelte Schluchzen seiner Frau noch die erregten Rufe der Gäste konnten daran etwas ändern. Irgendwann erschien die Gendarmerie und dehnte die Suche auf die umliegende Nachbarschaft aus. Doch was immer sie taten, es blieb ohne Ergebnis.
Richard Bellheim blieb verschwunden. Allen, die ihn an diesem Neujahrsmorgen des Jahres 1894 zum letzten Mal sahen, war klar, dass er nie zurückkehren würde.
Teil 2
Inseln über der Zeit
13
London, eine Woche später …
Der Royal Musketeers Fencing Club war einer der ältesten Fechtclubs Londons. Ein Traditionsverein, der zu Zeiten von Lord Nelson und seinem legendären Sieg bei Trafalgar gegründet worden war und der den Ruf genoss, in seinen Kampfregeln genauso streng zu sein wie in der Auswahl seiner Mitglieder. Hier aufgenommen zu werden, setzte voraus, dass man über Verbindungen zu den höchsten Ebenen verfügte und im näheren Umfeld zur Queen stand. Ein Club für Mitglieder der Upperclass und solche, die es werden wollten.
Das runde Ziegelgebäude mit seiner goldenen Kuppel und seinem Umgang aus weißen Säulen grenzte direkt an die Themse unweit der Westminster-Kathedrale. Efeu umrankte die Säulen und die angrenzenden Platanen warfen lange Schatten. Das Rasseln von Klingen drang aus dem Inneren.
Max Pepper hatte Degen und Säbeln noch nie etwas abgewinnen können. Nicht, dass er den Umgang damit nicht beherrschte, er konnte Waffen nur generell nicht leiden. Er hielt sie für Standesmerkmale spätpubertierender Muttersöhnchen. Wer es für nötig hielt, anderen mit der Länge oder Größe seiner Waffe zu imponieren, dem hatte der liebe Gott entweder zu wenig Selbstvertrauen oder zu wenig Grips geschenkt. In den meisten Fällen eine Kombination aus beidem.
Er selbst sah sich als Mann des Geistes, der in der Lage sein sollte, jede Situation Kraft seines Verstandes zu meistern. Was nicht hieß, dass er ein wehrloses Opfer war. In der Stadt der Regenfresser hatte er seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt. Aber er empfand keine Liebe zum Töten.
»Lord Wilson macht um diese Uhrzeit immer seine Waffenrunden.«
Patrick O’Neill war ein sympathischer Rotschopf von der Grünen Insel, der viel redete und eine Menge Lachfältchen