Humboldt blickte zur Standuhr auf der anderen Seite des Raums. »Es ist jetzt halb zwölf. In einer guten Viertelstunde wird die Kapelle aufhören zu spielen und alle werden nach draußen auf die Straße gehen. Selbst das Dienstpersonal wird das Haus verlassen, um das Feuerwerk zu betrachten. Eine halbe Stunde lang wirst du völlig ungestört sein. Am besten, du durchstöberst zuerst das Schlafzimmer. Dort werden normalerweise die persönlichsten Gegenstände aufbewahrt. Versuch es mit den Nachttischchen und arbeite dich dann durch Vitrinen und Sekretäre. Halte nach einem Buch Ausschau, das alt und abgewetzt wirkt. Wenn es zwei Jahre in Afrika war, dürfte es ziemlich ramponiert sein.«
»Und wenn ich es habe?«
»Mich interessieren nur die letzten Einträge. Sieh nach, ob du irgendetwas zum Thema Meteoriten findest. Nimm dir am besten etwas zu schreiben mit und mach dir Notizen. Hier sind ein Stift und ein Blatt Papier.« Er zog beides aus seiner Weste.
»Was, wenn ich es nicht finde oder erwischt werde?«
»Lass dir etwas einfallen. Du bist doch ein geschickter Dieb. Und jetzt los. Ich werde mir eine passende Entschuldigung für dich einfallen lassen.«
11
Als Oskar den Treppenaufgang betrat, waren draußen bereits die ersten Knallfrösche zu hören. Genau wie von Humboldt vorausgesagt, hatte die Gesellschaft das Haus verlassen und bereitete sich auf den Jahreswechsel vor. Selbst die Mädchen und Hausangestellten waren ins Freie geeilt, um das neue Jahr zusammen mit den Gästen zu begrüßen.
Oskar hatte sich unauffällig hinter einer Standuhr verborgen und eilte nun die Treppe hinauf. Leise wie eine Katze schlich er nach oben. Nicht das geringste Knarren war zu hören.
Oben angekommen sondierte er erst mal die Lage. Vor ihm lag ein Flur, von dem sechs Zimmer abgingen. Er war von gedämpftem Gaslicht erleuchtet und wirkte verlassen. Oskar blieb einen Moment stehen und lauschte angestrengt.
Nein, niemand hier.
Kurz entschlossen wählte er die erste Tür auf der linken Seite und drückte die Klinke. Das Zimmer dahinter lag im Dunkeln. Durch die Fensterscheiben waren bereits die ersten Raketen zu sehen. Die Dächer der gegenüberliegenden Häuser hoben sich scherenschnittartig gegen den Nachthimmel ab. In den Fenstern brannte Licht. Menschen bewegten sich dahinter oder standen an den Balkonen. Oskar ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Ein Ankleidezimmer. Ein riesiger Wandschrank, ein Spiegel sowie zwei gepolsterte Stühle nebst Schminktischchen. Nichts, worin man persönliche Unterlagen aufbewahren konnte. Falsches Zimmer. Er wandte sich der nächsten Tür zu. Hier war das Bad. Groß, luxuriös und sauber. Das nächste Zimmer sah interessanter aus. Offensichtlich das Schlafzimmer der Bellheims. Hier gab es definitiv ein paar Möbelstücke, in denen man persönliche Dinge aufbewahren konnte. Oskar schlüpfte hinein und zog die Tür hinter sich zu. Er musste jetzt sehr vorsichtig sein. Wenn er die Leute auf der anderen Seite sehen konnte, so konnten sie ihn auch sehen. Nichts wäre schlimmer, als an einem solchen Abend erwischt zu werden. Mit einem kurzen Blick auf die Häuser der anderen Straßenseite vergewisserte er sich, dass niemand Verdacht geschöpft hatte. Dann begann er, systematisch die Schränke und Nachttische zu durchsuchen.
* * *
»Wo steckt eigentlich Oskar? Es ist gleich Mitternacht.« Charlotte hielt ihre Tasse mit heißem Punsch umklammert und blickte ungeduldig in Richtung Haus. »Wenn er sich nicht beeilt, verpasst er das ganze Spektakel.«
»Ich glaube, dem Jungen war etwas schwindelig nach den vielen Runden, die du auf dem Parkett mit ihm gedreht hast«, sagte Humboldt. »Lass ihm ein paar Minuten Zeit.«
»Soll ich mal nach ihm sehen?«
»Er kommt schon klar.«
Charlotte warf einen Blick in Richtung Kirchturmuhr. Noch etwa zwei Minuten. Wenn er nicht bald kam, würde der große Moment ohne ihn verstreichen. Und dabei hatte sie sich so darauf gefreut, mit ihm anzustoßen. Ob er es wohl wagen würde, ihr einen Kuss zu geben …?
Sie bemerkte, dass der Forscher sie aufmerksam beobachtete. In seinen Augen lag etwas, das sie innehalten ließ. »Ist irgendwas?«, fragte sie mit klopfendem Herzen.
»Du magst Oskar sehr, habe ich recht?«
Charlotte spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. »Natürlich«, entgegnete sie. »Er ist mein Cousin.«
»Ganz genau.« Mehr sagte er nicht. Nur diese zwei Worte.
Charlotte wich seinem Blick aus. Worauf wollte er hinaus? Glaubte er etwa, dass sie etwas für Oskar empfand? Unmöglich, sie wusste es doch selbst nicht genau.
Sie wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Augenblick fingen alle an zu zählen.
»Fünf … vier … drei … zwei … eins …«
* * *
Bunte Raketen brachten den Himmel über Berlin zum Leuchten. Funkenkaskaden überzogen den Himmel, gefolgt von ohrenbetäubenden Kanonenschlägen. Es prasselte und knatterte, dann stiegen weitere Raketen in den Himmel. Über das Knallen hinweg setzten das Läuten der Glocken ein. Hochrufe und Gelächter vermischten sich mit dem Knistern und Dröhnen von Schwärmern und Böllern.
Es war Neujahr.
Oskar presste die Lippen aufeinander. Er hatte das ganze Zimmer abgesucht. Jeden Winkel, jedes Fach, jede Schublade. Wieder kein Glück gehabt. Dabei war Humboldt so sicher gewesen, dass das Tagebuch im Schlafzimmer sei. Doch hier war nichts. Eine ganze Viertelstunde hatte er verplempert und war immer noch keinen Schritt weiter.
Die Zeit wurde knapp.
Er verließ das Schlafzimmer und eilte nach links. Das nächste Zimmer schien eine Art Studierstube zu sein. Bücherregale, ein Schreibtisch, einige Stühle und ein Sekretär. Darauf Tintenfässer, Schreibwerkzeuge sowie ein Stapel unbeschriebenes Papier.
Mit aufkeimender Hoffnung näherte sich Oskar dem Sekretär.
Die Schublade war abgeschlossen.
Oskar wühlte in seiner Hosentasche. Seine Finger ertasteten ein gebogenes Metallstück. Er zog es heraus und hielt es in die Höhe. Ein schmales Grinsen umspielte seinen Mund. Alte Gewohnheiten legte man nicht so einfach ab. In den Zeiten, als er sein Brot mit Taschendiebstählen und kleinen Raubzügen bestritten hatte, war ihm dieses Metallstück stets ein treuer Begleiter gewesen.
Er steckte den Dietrich ins Schloss und drehte ihn sanft nach rechts. Er spürte einen Widerstand. Jetzt war Vorsicht geboten. Eine unachtsame Bewegung und der dünne Stift würde abbrechen. Zum Glück waren die Metallteile gut geölt. Er ertastete den Widerstandspunkt, winkelte den Dietrich leicht an, sodass er ihn als Hebel verwenden konnte, und drückte den Stift nach unten. Ein befriedigendes Klicken war zu hören. Rasch zog er ihn wieder heraus, steckte ihn ein und öffnete die Schublade. Im Licht der Feuerwerkskaskaden sah er den Inhalt. Briefpapier, Siegelwachs, allerlei Stifte und – ihm stockte der Atem – ein fleckiges, abgewetzt wirkendes Notizbuch. Auf dem dunklen Holzboden der Schublade glitzerten Sandkörner.
Er wollte schon zugreifen, als er in der Fensterscheibe eine Bewegung bemerkte. Irgendjemand kam hinter ihm den hell erleuchteten Flur entlang. Rasch löste er die Finger vom Tagebuch und stieß die Schublade zu. Oskar hielt den Atem an und tat so, als würde er aus dem Fenster blicken. In der gläsernen Reflektion sah er, dass der Fremde im Türrahmen hinter ihm stehen geblieben war.
»Hallo, mein Junge.«
Es war der Hausherr.
Himmel!
Oskar drehte sich um. »Oh, hallo, Herr Bellheim.« Seine Stimme zitterte. Er konnte es nicht verhindern.
»Was machst du hier?«
»Ich hab mich verlaufen«, log Oskar. »Die untere Toilette war besetzt, da hab ich gedacht, ich schau mal im ersten Stock nach. Na ja, und dann fing das Feuerwerk an. Ist das nicht eine herrliche Aussicht?« Er wusste selbst, wie unglaubwürdig das klang, aber das war das Einzige, was ihm in so kurzer Zeit einfiel.