Noch einmal suchte er alles ab, dann hatte er die Nase voll. Er stürmte zur Tür und riss sie auf. »Lena?«
Als nichts geschah, brüllte er noch lauter: »Lena!«
Endlich hörte er Fußgetrappel auf den Stiegen. Lenas rote Zöpfe flatterten, als sie die Treppen emporeilte.
»Was tust du denn noch hier? Alle warten auf dich und die Pferde werden langsam unruhig.«
»Ich kann meine Schuhe nicht finden. Wo hast du sie wieder hingebummelt?«
»Von wegen hingebummelt. Ich habe sie dahin gestellt, wo sie hingehören. Zu deinen anderen Sachen.« Sie schnürte ins Zimmer und riss die Schranktüren auf.
Tatsächlich. Dort, im untersten Fach, standen sie.
»Bitte schön. Sauber und aufgeräumt, wie sich das gehört.«
Oskar wollte etwas sagen, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Dass die Schuhe im Schrank standen, darauf hätte er nun wirklich selbst kommen können. Mürrisch schlüpfte er hinein und zog die Schnürsenkel fest.
»Oskar, wir wollen los!« Humboldts Stimme schallte vom Hof herauf.
»Lass dich mal ansehen.« Lena fing an, an ihm herumzuzupfen. Sie fegte Staubflusen von seiner Jacke, stellte den Hemdkragen ordentlich auf und zog seine Krawatte fest. »Bist du aufgeregt?«
»Bin ich nicht.« Oskar presste die Lippen aufeinander. Natürlich war er aufgeregt. Wer wäre das nicht?
»Macht nichts«, sagte Lena und gab ihm einen Klaps. »Wäre ich auch an deiner Stelle. Und jetzt ab mit dir.«
»Danke«, grummelte er, dann eilte er die Treppen runter.
»Da bist du ja endlich!«, rief Humboldt, als er unten eintraf. »Wir haben schon gedacht, wir müssten ohne dich losfahren.« Sein Vater trug einen langen schwarzen Mantel, eisenbeschlagene Stiefel und einen hohen Zylinder. In seiner Hand hielt er seinen schwarzen Gehstock mit dem goldenen Knauf. »Möchtest du zu den Damen oder kommst du zu mir auf den Kutschbock?«
Oskar warf einen sehnsüchtigen Blick ins warme Innere, dann schüttelte er den Kopf. »Vier Augen sehen mehr als zwei. Ich komme mit rauf.«
»Sehr schön.« Humboldt entzündete die Petroleumleuchten, stieg auf den Kutschbock und machte Platz für Oskar. Dann ließ er die Zügel schnalzen und lenkte die Kutsche in einem weiten Kreis in Richtung Ausfahrt. Als sie am Haus vorbeifuhren, sah Oskar seine Freunde, die ihre Nasen an die Scheiben pressten. »Stellt keinen Unsinn an und lasst niemanden hinein!«, rief Humboldt. »Ich verlasse mich auf euch. Wir sehen uns im neuen Jahr.« Die Pferde gingen in einen lockeren Trab über und klapperten fröhlich in Richtung Innenstadt.
Es war Viertel nach acht, als sie bei den Bellheims eintrafen.
Das dreistöckige Stadthaus an der Dorotheenstraße, unweit des Brandenburger Tors, war festlich beleuchtet. Das Tor zum Innenhof stand offen und Humboldt lenkte die Kutsche auf einen der freien Plätze. Der Großteil der Gäste schien bereits anwesend zu sein. Er sprang vom Fahrersitz und übergab die Zügel dem Stallburschen, dann half er den Damen beim Aussteigen. Oskar warf einen bewundernden Blick auf seine Cousine. Charlotte sah heute einfach hinreißend aus. In ihrem langen Mantel, der weißen Pelzmütze und den weichen Handschuhen wirkte sie wie eine Zarentochter. Wie eine Prinzessin aus einem russischen Märchen. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, das dies dasselbe Mädchen sein sollte, das ihn in Stiefeln, Männerhosen und Trapperweste in die höchsten Berge und die tiefsten Meerestiefen begleitet hatte.
»Das ist aber wirklich ein schönes Haus«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass man als Geograf so viel Geld verdienen kann.«
Humboldt lachte. »Richard ist Mitglied der Deutschen Geografischen Gesellschaft, einer der angesehensten Vereinigungen weltweit. Um von ihr aufgenommen zu werden, muss man schon einiges geleistet haben. Er hat lange Zeit in Algerien, Tunesien und Libyen geforscht und mitgeholfen, antike Städte aus dem Wüstensand zu graben. Naturwissenschaften müssen nicht zwangsläufig eine brotlose Kunst sein.« Er stapfte durch den Schnee in Richtung Haupteingang und klopfte an. Oskar folgte ihm mit bangem Gefühl. Er war noch nie zu Gast bei irgendeiner größeren Gesellschaft gewesen. Charlotte hatte ihm gesagt, er solle sich eng an sie, Humboldt und Eliza halten, doch das war keine Garantie. Was, wenn ihn jemand nach seiner Herkunft fragte oder nach seiner Vergangenheit?
In diesem Moment ging die Tür auf. Ein älterer, steif wirkender Diener erschien und musterte die Neuankömmlinge mit unterkühltem Blick. Er trug einen eng anliegenden Frack mit langen Rockschößen, eine Hose mit Nadelstreifen sowie blank polierte Schuhe. Sein Kopf wurde von einem Kranz kurz geschnittener weißer Haare umrahmt. Auf seiner Oberlippe thronte ein schmales, wohlgetrimmtes Bärtchen.
»Wen darf ich melden?«, fragte er.
»Carl Friedrich von Humboldt, Eliza Molina, Charlotte Riethmüller und Oskar Wegener.«
Der Diener deutete eine Verbeugung an und trat einen Schritt zur Seite. »Bitte folgen Sie mir. Sie werden bereits erwartet.«
Der Geruch nach Tabak und alkoholischen Getränken durchwehte den Eingangsbereich. Von jenseits der Tür drangen vereinzelte Lacher zu ihnen herüber. Das Fest schien bereits in vollem Gange zu sein.
Oskar blickte sich um.
Der Raum war mit Sammlerstücken ferner Länder dekoriert. Masken, Totems, Schilde und Waffen, alles wunderschön gearbeitet. Die meisten von ihnen bestanden aus Holz und waren mit kleinen Muscheln oder Steinen verziert. In einer Ecke des Raumes stand eine Skulptur, die aus einem einzigen Baumstamm geschnitzt war. Hunderte ineinander verwobener Menschenkörper krabbelten über- und untereinander und hielten Schalen und Körbe in ihren winzigen Händen. Oskar verschlug es die Sprache. So etwas hatte er noch nie gesehen.
Der Diener bat sie, ihre Jacken und Mäntel abzulegen, dann führte er sie in den Salon.
»Meine sehr verehrten Damen und Herren, Carl Friedrich von Humboldt nebst Begleitung.«
Etwa dreißig Personen waren anwesend, Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters. Oskar sah Rüschenkleider, Westen, hochgestellte Krägen, Nickelbrillen, Fächer und Manschetten. Eine Gruppe von Männern hatte sich in einem Nebenzimmer versammelt, wo Branntwein und Zigarren gereicht wurden.
Nach und nach erstarben die Gespräche. Alle Augen waren auf die Neuankömmlinge gerichtet. Eine peinliche Stille trat ein. Oskar konnte das Gas der Lampen zischen hören.
In diesem Moment ging rechts von ihnen eine Tür auf. Eine schöne und wohlgekleidete Dame betrat den Raum. »Was herrscht denn hier für eine Grabesstille?« Als sie die Neuankömmlinge bemerkte, ging ein Strahlen über ihr Gesicht.
»Herr Humboldt! Ich habe Sie gar nicht kommen hören.«
Der Forscher deutete eine Verbeugung an. Frau Bellheim eilte herbei und schüttelte ihnen die Hand. »Wie schön, Sie wiederzusehen. Und Sie natürlich auch, Fräulein Charlotte. Ich habe mich so darauf gefreut, unsere kleine Unterhaltung von neulich fortzusetzen.« Dann ging sie zu Eliza. »Sie müssen Frau Molina sein. Herr Humboldt hat mir schon von Ihnen erzählt. Welch außergewöhnliches Vergnügen, Sie kennenzulernen. Treten Sie doch näher.«
»Bitte nennen Sie mich Eliza. Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich mit Nachnahmen anspricht. Ich komme mir dabei immer so alt vor.«
»Ganz reizend. Aber nur, wenn Sie mich Gertrud nennen.«
»Einverstanden.« Die beiden Frauen lachten.
Das Eintreffen der Hausherrin wirkte wie eine frische Brise.
Dann richtete Frau Bellheim ihre Augen auf ihn. »Herzlich willkommen, junger Mann. Sie müssen Herr Wegener sein.«
Oskar, der nicht genau wusste, wie er sich zu verhalten hatte, ergriff ihre Hand, verbeugte sich und deutete einen Kuss an.
»Oh, wie galant«, sagte Frau Bellheim lachend. »Was für einen